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Schmerzlich ausbaden

„Vergessene Zukunft“: Christian Philipp Müller rekonstruiert Fortschrittswille und Sozialhygiene der fünfziger Jahre im Kunstverein München  ■ Von Jochen Becker

Mit dem Verfall der intellektuellen Öffentlichkeit, nunmehr fest im Dienste der Medienindustrie, erlebt die institutionell ungebundene konzeptuelle Kunst eine erneute Blüte. Vor dem Hintergrund einer Krise von Kunst- und Weltmarkt sucht die theoretisierende Kunstbewegung Einhalt durch Selbstbefragung. Konzeptuell arbeitende Künstler verfangen sich nicht selten im Fallstrick einer Kunst- über-Kunst. Die Thematisierung des Farbauftrags oder von seriellen Volumen — Feld der klassischen Moderne — wird abgelöst durch Reflexion über Kunstmarkt und Ausstellungsformen, Kontext und Mehrwert der künstlerischen Arbeit. Die von der neokonzeptuellen Kunst kritisierte Selbstbezüglichkeit der Moderne wird vergleichbar esoterisch fortgeführt. Letztlich fehlen die Fenster nach draußen.

Mit seiner Münchner Ausstellung hat sich Christian Philipp Müller vom Ghetto des ungetrübten Kunstbezugs deutlich entfernt. Seine konzeptionelle Kritik der Moderne ist Thema — er untersucht dieses exemplarisch an Arbeiten der Le Corbusier, Edgar Varèse, Veit Harlan und Nicolas Schöffer — und schlägt sich zugleich in seinem Vorgehen nieder. So befaßt er sich weniger mit deren ästhetischer Ausformung, sondern vielmehr mit ihrer Auswirkung aufs Soziale, welche er wie ein Privatgelehrter hervorgearbeitet hat. Bereitete kürzlich sein Galeriekollege Fareed Armaly in Köln die siebziger Jahre auf, untersucht Müller nunmehr die social history der fünfziger Jahre. Über die eigene Biographie bahnt sich sein Weg durch die gesellschaftliche Realität.

Die Vergessene Zukunft spielt sich um 57 ab, zwischen Nachkrieg und dem Ausbruch konkreter gesellschaftlicher Ideen um 68. Hier fand die Zukunft in der popularisierten Moderne statt: Le Corbusier entwarf Ideal-Wohnblocks für ein besseres Leben; heute gelten die Bauten als Brutstätten der Verelendung. Der Totalitätsanspruch der Sozialutopisten — sei es das Bauhaus, die KPdSU oder eben der französisch- schweizerische Stararchitekt — überforderte die Beglückten und erstickte das Besondere. Für die Brüsseler Weltausstellung 1958 entwickelte der Siebzigjährige in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Edgar Varèse und dem damals noch als Architekt arbeitenden Komponisten Iannis Xenakis ein monumentales „elektronisches Gedicht“. Das von Philips gesponserte, multimediale Gesamtkunstwerk-Spektakel legte sich im Acht-Minuten-Takt wie ein Gewitter über jeweils 500 Expo-Besucher und schleuste diese durch Corbusiers eigenwillige Evolutionsgeschichte „voller kolonialistischer, sexistischer und rassistischer Züge“ (Helmut Draxler). Höhepunkt der Menschheitsgeschichte bildeten die Bauwerke des Meisters.

Le Corbusier

Als Forscher-Kurator im Selbstauftrag bringt Christian Philipp Müller dokumentarisches Archivmaterial wieder ans Tageslicht und rollt den Fall Le Corbusier auf. So hat er von der Eindhovener Philipszentrale das — inzwischen ziemlich angeschmuddelte — Modell des doppelmuschelförmigen Pavillons ausleihen können. Daran ist deutlich die skulptural-utopische Idee moderner Baumeisterei abzulesen. Die Formvollendung des „Gedichts“ verlangte Autarkie des Geistigen. Le Corbusier, der sich seit 1920 auch als Maler hervortat, verstand sich wie so viele Architekten vor allem als Künstler.

Was die Bauschöpfer als ihre Architekturvision noch beschaulich klein und maßstabgerecht modelliert hatten, mußte der Bewohner und -nutzer in Stahl, Beton und Glas gegossen schmerzlich ausbaden. Außer bei einer Bespielung, wie im Falle von Le Corbusiers privatmythologischer Weltausstellung in Brüssel, schert sich die Konzept- Baukunst häufig wenig um die wirkliche Nutzung — Müller trug zu deren Veranschaulichung einige originale Entwurfsskizzen zusammen: Die Sozialutopie bestand glänzend auf dem Entwurfpapier, ohne sich einer Überprüfung durch die Realität unterziehen zu wollen. Bis heute ist die Architekturkritik der Fachorgane reine Formsache.

Dem kathedralenartigen, bald zehn Mann hohen Pavillon stellt Müller die vereinfachte Rekonstruktion der Arbeitszelle von Le Corbusier gegenüber. Ebenso wie schon der Philipsbau ist das Privatbüro inmitten seines weiträumigeren Ateliers fensterlos. Die Realität des Alltags bleibt außen vor, da der gut zwei Kubikmeter kleine Kubus die Konzentration bündeln soll. Müller verstärkt die mönchische Enklave durch einen elektronischen Schließmechanismus, welcher nach dem Betreten keine weitere Person mehr einläßt. Wechselt man aus dem weißen Würfel durch eine Tür in die danebenliegende Black Box, ertönt im Dunkel die Brüsseler Varèse-Komposition.

Nicolas Schöffer

Die sowohl sozialplastische als auch skulpturale Durchformung des Lebens und Bauens schwebte dem französischen Objekt- und Lichtkünstler Nicolas Schöffer vor und hat bis zu den phantastischen Science-fiction- Zeichnungen meiner Was-ist-was- Bücher das Bild der Zukunft geprägt. Ein zwischen Stinkmorchel und monströsem Busen schwankendes Gebilde, dessen colorierter Entwurf aushängt und auch das Motiv des Plakats stellt, sollte das „Zentrum für sexuelle Freizeitgestaltung“ beherbergen: Hier könnte sich das moderne, und — wie Manfred Hermes in seinem Katalogbeitrag anmerkt — selbstverständlich heterosexuelle Paar auf mehreren Etagen einmal so richtig ausleben, umgeben vom sanften New Age der Licht-, Duft- und Klimaduschen. Schöffers Totalentwürfe für eine „Kybernetische Stadt“ — ein Konstrukt wie vom Setdesigner des „Raumschiffs Orion“ gezimmert — sahen nicht nur die Trennung von Arbeit und Privatleben vor, sondern empfahlen im „sozialhygienischen“ Sinne eine Institution zur Verrichtung des Sexualtriebs. Beschaulich in ein Wäldchen verpflanzt, soll das unvermeidlich Animalische des ansonsten aufgeklärten Neumenschen inmitten der Natur praktiziert werden.

Veit Harlan

Der — neben den Kapiteln zu Le Corbusier, Schöffer und Varèse — vierte Teil der Münchner Präsentation beschäftigt sich mit der vertrackten Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte eines Veit-Harlan-Films, der erst nach zahlreichen Schnittauflagen 1957 unter dem Titel Anders als Du und Ich (§ 175) in die Kinos kam: Ein Oberschüler gerät in die homoerotischen Kreise eines Kunsthändlers, in dessen Wohnzimmer bei elektronischer Musik, Lichtorgel und klugen Gesprächen internationaler Gäste Knaben römische Ringkämpfe abhalten. Die künstlerischen Arbeiten des Primaners werden in Folge immer abstrakter. Seine Mutter verkuppelt ihn mit einem Flüchtlingsmädchen, um ihn wieder auf rechte Bahnen zu locken. Vor Gericht erhält die Kupplerin mildernde Umstände; der nunmehr „normalgeschlechtliche“ Sohn malt gegenständliche Bilder.

Müller erkundet anhand des Films und seiner Folgen im Schnittfeld von Homosexualität und Modernismus die darin ineinander verwobenen Themenkomplexe der weiterhin lebendigen Nazi-Vergangenheit, „supermoderner Kunst“ (Verleihtext), Xenophobie und „Sexualhygiene“.

Mitläufer

Was sich für Harlan wie zwei sich ausschließende Arbeitsweisen darstellte — „ich wußte wohl, daß sich ein solches Thema mehr für die Wissenschaft als für die Kunst eignet“—, verknüpft Müller zu einem Strang. Mit Hilfe eins analytischen Videotrailors Das Geschlecht, den Müller in einem separaten Raum ununterbrochen projizieren läßt, kompiliert er entscheidende Ausschnitte aus Harlans Film und montiert beispielsweise die Lichtspiele im „Orgienkeller“ des Rechtsanwalts mit der in München auch im Original gezeigten Lichtorgelskulptur von Schöffer. In einem als Vitrine genutzten Kinoschaukasten hängen Kritiken, Schnittvorlage, alte Werbezettel und autobiographisches Material (von Harlan) aus, um durch das Arrangement die den Film umgebenden sozialgeschichtlichen Aspekte kenntlich zu machen. So gehört zum Verständnis der Reaktionen aufAnders als die Anderen auch dessen Vorgeschichte: Harlan war wegen seines 1940 zu antisemitischen Propagandazwecken eingesetzten Films Jud Süß der einzige Künstler und Intellektuelle im Dienste des Nationalsozialismus, der sich vor Gericht zu verantworten hatte. Stellvertretend für die faschistischen Lichtbildner Seitz, Seppe, Riefenstahl, Rabenalt, Liebeneiner, Ritter oder Ucicky machte man dem prominenten Hetzfilmer den Prozeß. Als „Mitläufer“ eingestuft, sprach man ihn von der Anklage „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ frei. Seine zahlreichen Kollegen durften sich somit ebenfalls entlastet fühlen.

Trotz anfänglichem Zögern packte der sich wieder im Recht Fühlende — 1954 veranstaltete Harlan in einer Kiesgrube die öffentliche Verbrennung des Jud Süß-Negativs — mit dem Projekt Das dritte Geschlecht 1957 erneut ein „heißes Eisen“ (Harlan) an. Fast 40 Jahre nach Richard Oswalds StummfilmAnders als die Anderen — eine „halbwegs positive Darstellung von Homosexualität“ (Draxler) aus dem Jahre 1919 — wurde Gleichgeschlechtlichkeit als Lebensform wieder thematisiert, und nicht nur an Nebenschauplätzen überzeichnet und typisiert.

Laut Manfred Hermes wird das um 1870 in Europa eingeführte Wort „Homosexualität“ bei Harlan überhaupt das erste Mal in einem Spielfilm ausgesprochen. Zugleich affirmiert der Film die Unterscheidung zwischen Hetero und Homo. Harlans tendenziell positiv besetzter Ursprungstitel Das dritte Geschlecht verweist auf eine „prohomosexuelle“ Studie Hirschfelds. Prompt hat Harlan die „Freiwillige Selbstkontrolle“ am Hals: „Mit [dem Titel des Films] wird dasselbe ausgesagt, wie immer in allen möglichen Abwandlungen in den homosexuellen Heften“, begründet Oberstaatsanwalt Kayser im Auftrag der FSK dessen Verbot. Harlan wird wieder einmal stellvertretend angeprangert; auch hier meint die Bürokratie, den Fall vom zeitgeschichtlichen Umfeld loslösen und gesellschaftliche Fakten ignorieren zu können. War Harlan im Dritten Reich ein „Mitläufer“, so behandelte man ihn im Muff der Adenauerzeit als Vorläufer. Auch das erscheint im nachhinein mehr als zweifelhaft.

Kuppler

Es bleibt nicht bei der verfälschenden Umbenennung in Anders als Du und Ich (§ 175), gegen die Harlan und sein Berater Hans Giese (Institut für Sexualforschung in Frankfurt) protestieren, da die Filmhandlung unbestreitbar weit eher den § 180 (Kuppelei) streife. Insgesamt dreimal muß der Film die „freiwillige“ Zensurbehörde passieren. Wie Wolfgang Theis in seinem Katalogbeitrag nachweist, verstärkte die FSK mit der Durchsetzung von Schnittauflagen, Neuinszenierungen, Demontage des homosexuellen Rechtsanwalts Dr. Winkler zum „feigen Schwulen“, Umsynchronisation und Austausch des Pressematerials — das Plakat zeigt einen Hetero-Kuß in Großaufnahme — die homophobe Tendenz des Films ganz entscheidend: „Prohomosexuelle Tendenzen“ waren nicht geduldet. Damalige Zeitungskritiken („daß diese grundsätzlich der modernen Kunstrichtung des Abstrakten anhängen, der damit der Stempel des Krankhaften aufgedrückt wird, ist die erste Perfiderie“, meint die 'Deutsche Woche‘), ja selbst Künstlerverbände protestierten erbittert (in Düsseldorf wandten sie sich an das Kultusministerium wegen der verleumderischen Koppelung von moderner Kunst mit Homosexualität). Ihr Tenor lautet: Die fiese abstrakte Kunst zieht die armen Schwulen, oder diese die hehren Künste in den Dreck. Das sagt allerdings mehr über herrschende Vorurteile als über die eigentliche Darstellung im Film, welche zugegebenermaßen diese Zwiespälte provoziert.

Technokraten

Die nüchterne und detailreiche Präsentation der Münchner Ausstellung offeriert im Verein mit den Katalogbeiträgen für den kooperativen Besucher Verbindungslinien zwischen den einzelnen Kapiteln der popularisierten Moderne. Elektronische Musik, Lichtspiele und Spektakel sollten bei Le Corbusier, Schöffer und Harlan die Massen erregen. Die Kunst wird dabei zum Religionsersatz der Fortschrittsgläubigen: „Die Aufgabe des Künstlers besteht nicht mehr darin, ein Kunstwerk zu schaffen, sondern die Schöpfung neu zu schaffen“, so Schöffer; Le Corbusier gab seinem „Elektronischen Poem“ Unteritel wie „Götter, von Menschenhand geschaffen“ oder „Kultur im Schmelztiegel der Zeit“. Schräge Töne galten im Nachkriegseuropa als schick: Die elitär-klassische Moderne wurde durch ein diffuses Modernsein für alle abgelöst, das sich noch in Karlheinz Stockhausens Expo-Pavillon 1970 in Osaka wiederspiegelt. Die losgetretene allgemeine Technikeuphorie schlägt sich im Raubbau der Ressourcen nieder. Eine Industrialisierung von Bewußtsein, Globus und Weltraum wird durch die Symbiose von künstlerischem Wirtschaftssponsoring fixiert und gefeiert. So setzt das zeitgleich mit dem Philipspavillon errichtete Brüsseler Atomium der Kernkraft ein Denkmal. Müller arbeitet in seiner gegenwissenschaftlichen Funktion als Kurator und Rekonstrukteur die Ausformungen des Technokratentums und einer Ideologie der Machbarkeit heraus, die auch weiterhin („Unternehmen Zukunft“) den geistigen Haushalt der Politik bilden.

„Eine Ausstellung muß nicht nur angeschaut werden, sie muß vielmehr regelrecht gelesen werden“, schrieb Christoph Blase anläßlich der Ausstellung in Brüssel. Genau darum — und im weit umfassenderen Maße — geht es bei Müllers jüngster Arbeit im Münchner Kunstverein. Nicht nur, daß viel ausgehängtes Textmaterial und ein Begleitkatalog zu bewältigen wäre, was vom Besucher viel Zeit und Ausdauer verlangt: Man muß in München den Dingen und bildnerischen Exponaten ihre (Sozial-)Geschichte ablesen. Als Vorarbeiter und Wissenschaftler im eigenen Auftrag assistieren der Künstler und seine Partner bei der Lektüre; vorausgegangen sind ganz offensichtlich zeitaufwendige Recherchearbeiten, Studien und Archivbesuche. Seine Dankesliste erwähnt Filmmuseen und Architekturarchive, Kunstexperten und Firmen.

Die Münchner Präsentation bereitet den Zugang zu Themen, die auf den ersten Blick unzusammenhängend und, für sich betrachtet, recht abseitig wirken mögen. Eigenartigerweise stellt sich jedoch rasch ein Interesse für die Ausstellungskomplexe ein, die im Rahmen eines Kunstvereins erst einmal abwegig erscheinen. Der Besucher wird an keiner Stelle didaktisch gegängelt, aber auch nicht mit erst einmal nichtssagenden Exponaten alleine gelassen. Helmut Draxler, seit kurzem Leiter des Kunstvereins, setzt auf Wissensvermittlung und Mitarbeit: Der Bildende Künstler sollte auch gebildet sein und sich mit der Zeitgeschichte innerhalb der Präsentation auseinandersetzen. Der Besucher wiederum kann nicht immer nur unmittelbaren Genuß erwarten. Vergessene Zukunft steht exemplarisch für eine neue, sozialkommunikative Funktion von Kunst.

Bis zum 28. Juni. Der Katalog, von Müller im Stil der Nachkriegsmoderne gestaltet, ergänzt und begleitet die Ausstellung, statt diese einfach zu repräsentieren. Vor dem Europäischen Patentamt in München hat Schöffers Farbprojektions- und Spiegelskulptur „Chronos 10B“ ihren festen Platz. Das Filmmuseum zeigt Arbeiten von Harlan, Schöffer und zum „Poeme electronique“ etc.

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