ESSAY: Aus der Traum
■ Oder: Ist die Bürgerbewegung der CSFR noch zu retten?
Vielleicht sind sie nie aufgewacht aus ihrem Traum. Aus ihrem Traum, mit einer „samtenen Revolution“ für das so lange schweigende Volk eine civil society schaffen zu können. Aus ihrem Traum, nach all den Jahrzehnten einer „geschlossenen Gesellschaft“ der Dissidenz nun zu den umjubelten Helden nicht nur der Tschechoslowakei, sondern ganz Europas geworden zu sein.
Vielleicht ist aus dem Traum inzwischen auch ein Alptraum geworden: Die „Bürgerbewegung“ des ehemaligen Heizers Jiri Dienstbier, die Nachfolgerin des in den Tagen der Revolution des Herbstes 1989 entstandenen „Bürgerforums“, scheiterte ebenso wie die Nachfolgeorganisation der slowakischen Bewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ bei den jüngsten Parlamentswahlen an der Fünfprozenthürde, Vaclav Havel wurde auch im zweiten Wahlgang nicht wieder zum Präsidenten der auseinanderbrechenden Tschecho-Slowakischen Föderativen Republik gewählt.
Die Rückkehr nach Europa als gängiger Slogan
Unbeachtet dieser persönlichen Debakel scheint eine Niederlage alle anderen zu übertreffen: Die Atomisierung der Gesellschaft konnte nicht aufgehoben werden, der Aufbau der so viel beschworenen „bürgerlichen Gesellschaft“, er blieb in seinen Ansätzen stecken. Schlimmer noch: Bereits bestehende Zusammenhänge — so etwas wie die Charta 77 — lösen sich immer mehr auf, jahrelange Freund- und Nachbarschaften werden durch die ökonomische Differenzierung zerstört. Die Macht der Bürokratie ist ungebrochen, neben die „alten kommunistischen Strukturen“ haben sich die ebenso unfähigen und skrupellosen Aufsteiger gestellt. Heute wie damals werden Posten nach Parteizugehörigkeit vergeben, heute wie damals geben Journalisten vor allem die Meinung ihrer Herausgeber wieder.
Falsch wäre es jedoch, die fehlende Umsetzung eines politischen Konzeptes mit seinem grundsätzlichen Scheitern gleichzusetzen. Der Versuch, die BürgerInnen stärker an politischen Entscheidungen zu beteiligen, er ist von der Bürgerbewegung nie gewagt worden. Bis heute ist es nur in Ansätzen gelungen, die Selbstverwaltung der Gemeinden zu stärken, da Parteien als die einzig anerkannten Organe politischer Willenbildung die politische Diskussion gleichsam okkupierten, fanden bereits existierende Bürgerinitiativen keine öffentlichen Foren mehr. Die sich seit mehr als zwei Jahren hinziehende Diskussion über die Zukunft der CSFR ist inzwischen zu einer Angelegenheit der Berufspolitiker und JournalistInnen geworden. Umfragen haben gezeigt, daß besonders die BürgerInnen der Slowakei vorrangig an einer Lösung der wachsenden ökonomischen und sozialen Probelme interessiert sind. Und wenn die TschechInnen immer häufiger feststellen: „Wenn sie unbedingt wollen, dann laßt sie doch gehen, die Slowaken“, dann verbirgt sich hier auch die Ansicht, durch ihnen unverständliche politische Diskurse an der schnellen Rückkehr nach Europa gehindert zu werden.
„Die Rückkehr nach Europa“ war der eingängige Slogan, mit dem das „Bürgerforum“ (OF) in die Auseinandersetzung mit dem realsozialistischen System und in die ersten freien Parlamentswahlen im Frühjahr 1990 zog. Doch während die Philosophen, Juristen und Historiker der ehemaligen Opposition darunter vor allem das Anknüpfen an die geistigen Traditionen Mitteleuropas verstanden, ging es den Ökonomen um Vaclav Klaus um das Europa der freien Märkte. Ein „Bürger“ war für den Anhänger einer „Marktwirtschaft ohne Adjektive“ stets mehr ein bourgeois denn ein citoyen. Und so kann es dann kaum verwundern, daß das revolutionäre OF sich bereits in den ersten Wochen nach der Revolution differenzierte und nach dem Einfahren eines überwältigenden Wahlsiegs schließlich spaltete.
Doch bereits in den Tagen und Wochen der Trennung im Winter 1990/91 waren die Anzeichen für das spätere Scheitern der Nachfolgeorganisation „Bürgerbewegung“ (OH) zu erkennen. Bis zum letzten Augenblick wollten die Helden der Revolution nicht akzeptieren, daß eine Gruppe karrierebewußter Yuppies konsequent und zielstrebig das von ihnen gegründete OF-Forum spaltete und dabei auch noch die Mehrheit der Mitglieder mit sich nahm. Als sich die intellektuelle Spitze der Bewegung nach verlorener Schlacht zum Lecken ihrer Wunden ausgerechnet in einem Theater traf, da war ihr Gefühl der moralischen Überlegenheit mit Händen zu greifen: Schließlich, so ein auch in Zukunft vielzitierter Satz, hatte Vaclav Klaus es noch im Januar 1989 abgelehnt, eine Petition für den inhaftierten Vaclav Havel zu unterschreiben.
Natürlich waren all die Minister, Ministerpräsidenten und Präsidenten überarbeitet, war ihnen das Leben mit zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf anzusehen. Ohne große Mühe hätten sie dennoch feststellen können, daß Mitläufer wie Vaclav Klaus von einer Gesellschaft, die sich jahrezehntelang nur um ihre Wochenendhäuschen und ihre Skodovkas gekümmert hatte, besser akzeptiert werden konnten als Männer und Frauen, die aufgrund ihrer Überzeugungen jahrelang außerhalb dieser Gesellschaft gelebt hatten. Vaclav Havel, dessen Stern erst in den letzten Wochen zu sinken begann, scheint diese Regel nur zu bestätigen.
Hätte die Bürgerbewegung akzeptiert, daß mit den Taten von gestern nicht die Wahlen von morgen zu gewinnen sind, daß Politik mehr ist als nur das Abholen von Ehrendoktorhüten und Glanz auf internationlem Parkett, sie hätte noch eine Chance gehabt. Das Parteiprogramm, durch das sich sozialdemokratische Überzeugungen wie ein roter Faden ziehen, wurde aus Angst, als „zu links“ zu gelten, geradezu versteckt, zahlreiche Mitglieder, die eine kritische Diskussion über die Regierungspolitik forderten, wurden abgewählt und abgedrängt. Zu dem fehlenden Profil der Bürgerbewegung trug außerdem ihre Überzeugung bei, daß sie als wichtigste Regierungspartei die Gesetzgebungsarbeit der Regierung nicht behindern dürfe und deshalb stets zu Kompromissen bereit sein müsse. Eine entschiedenere Haltung gegen das Privatisierungskonzept von Finanzminister Vaclav Klaus war so natürlich nicht möglich.
Die Bevölkerung jedoch registrierte diese unausgesprochenen Vorbehalte der Bürgerbewegung und nahm sie ihr übel. Die Polarisierung des politischen Systems, das nur wenig Raum für Zwischentöne ließ, verschärfte die Situation. Den Linken waren die ehemaligen Oppositionellen zu rechts, den Rechten zu links. Nach den vergeblichen Versuchen einer „Schweiz Mitteleuropas“ in der Zwischenkriegszeit und eines „dritten Wegs“ 1968 wollten die BürgerInnen endlich klare Positionen: für oder gegen die Wirtschaftsreformen, für oder gegen die Föderation.
Alternative Wege als Akt der Erinnerung
Da diese einfachen Wahrheiten in den nächsten Monaten jedoch gehörig ins Wanken kommen dürften, muß die Wahlniederlage das Schicksal der Bürgerbewegung nicht endgültig besiegeln. Die nun endlich beginnende Privatisierung der großen Staatsbetriebe wird zu Konkursen und damit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führen, die Trennung des Landes wird nicht allein in der Slowakischen, sondern auch in der Tschechischen Republik die wirtschaftlichen Probleme weiter wachsen lassen. Schon heute steigt die Unzufriedenheit mit der ständigen Okkupation der Prager Innenstadt durch deutsche Touristen, schon heute wird in der sich stets als „Kulturnation“ begreifenden Bevölkerung die Kritik an fehlenden staatlichen Subventionen für Filmproduktion und Theater laut.
Will die „Bürgerbewegung“ das Feld nicht den kommunistischen Populisten überlassen, muß sie ihren alternativen Weg einer Bürgergesellschaft auch sich selbst wieder in Erinnerung rufen. Gleichzeitig sollte sie sich nicht scheuen, mit all denjenigen zusammenzuarbeiten, die eine stärkere Intervention des Staates beim Strukturwandel der Wirtschaft fordern. Jedes weitere Anbiedern an die Vertreter marktwirtschaftlicher Gewißheiten könnte tödlich sein. Sabine Herre
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