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„Wien ahoi“ an der Ostseeküste

Zweiter Locona-Prozeß: In Kiel wird seit gestern erneut Österreichs skurrilste Affäre aufgerollt  ■ Von Thomas Scheuer

Kiel/Bonn (taz) — Mit juristischem Klingenkreuzen begann gestern vor dem Landgericht Kiel der mit Spannung erwartete Strafprozeß gegen den deutschen Geschäftsmann Hans Peter Daimler. Die Anklage wirft ihm vor, zusammen mit dem Wiener Glücksritter und Schickeria-Liebling Udo Proksch das Frachtschiff „Lucona“ im indischen Ozean in die Luft gejagt zu haben, um die Versicherungssumme von 33 Millionen Mark zu erschwindeln. Schon nach 90 Minuten wurde der Prozeß zur Beratung über Einstellungs- bzw. Aussetzungsanträge der Verteidigung auf nächste Woche vertagt.

Lange Zeit war in der Causa Lucona nur eines klar: Es muß einen fürchterlichen Donnerschlag gegeben haben an jenem 23. Januar 1977 auf dem Koordinatenpunkt acht Grad nördlicher Breite, siebzig Grad östlicher Länge, mitten im indischen Ozean. „Als ob ein Auto gegen die Wand gefahren wäre“, gab später ein Überlebender zu Protokoll. Minuten nach diesem Knall versank das Frachtschiff „Lucona“ bei bestem Wetter südlich der Malediven. Sechs Seeleute kamen ums Leben; sechs, unter ihnen Kapitän und Steuermann, überlebten. Im dunkeln blieben fast zehn Jahre lang die Ursache des Unglücks und die wahre Ladung der „Lucona“. Fernab vom ozeanischen Tatort, im schleswig-holsteinischen Kiel, wird jetzt noch einmal jene Affäre aufgerollt, über die in Österreich hohe Politiker gleich reihenweise purzelten. Ein Gerichtspräsident, ein Parlamentspräsident und ein Innenminister mußten ihre Sessel räumen, weil sie den „Lucona“-Regisseur Udo Proksch gedeckt hatten. Ein Ex-Verteidigungsminister gab sich standesgemäß die Kugel. Im Parlament untersuchte ein Untersuchungsausschuß den Fall. Das Wiener Landgericht ließ sich die Wahrheitsfindung in Österreichs skurrilstem Politthriller schließlich einiges kosten: Von einem Spezialunternehmen ließ es das Wrack der „Lucona“ auf dem Grund des indischen Ozeans orten und in über 4.000 Metern Tiefe auf Video-Film bannen. Der Streifen geriet im Wiener „Lucona“-Prozeß zum wichtigsten Beweismittel. Im März letzten Jahres wurde Udo Proksch zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht hielt es für erwiesen, daß die „Lucona“ nur wertlosen Industrieschrott geladen hatte und vorsätzlich versenkt wurde.

Die gleichen Verbrechen lastet die Kieler Staatsanwaltschaft Prokschs deutschem Spezi Hans Peter Daimler an. Der hatte sich in die Bundesrepublik abgesetzt und später in Kiel der Justiz gestellt. Er sitzt seit 17 Monaten in U-Haft. Verteidigt wird Daimler von dem FDP-Landesvorsitzenden Wolfgang Kubicki und dem Jura-Professor Erich Samson, bekannt geworden als Rechtsbeistand des unter mysteriösen Umständen verstorbenen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel.

Die Verteidigung kritisierte am ersten Verhandlungstag, daß sich die Anklage hauptsächlich auf die Akten des Wiener Prozesses stütze, bemängelte aber gleichzeitig, daß noch nicht alle Akten aus Wien in Kiel vorlägen; in dem Aktensatz in Kiel fehlten 6.000 Blatt. Der Vorsitzende Richter Uwe Martensen mußte einräumen, daß 44 Aktenpakete noch zwischen Wien nach Kiel unterwegs seien. Daimlers Anwälte beantragten die Einstellung des Verfahrens oder, sollte dies abgelehnt werden, zumindest eine Aussetzung von sechs Monaten, um die Wiener Akten studieren zu können.

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