Der amerikanische Komponist John Cage starb Mittwoch nacht in New York: Wind, Herzschlag, Erdrutsch
■ John Cage war "kein Komponist, sondern ein Erfinder", befand sein Lehrer Arnold Schoenberg. Cage setzte alltägliche Geräusche als...
Wind, Herzschlag, Erdrutsch John Cage war „kein Komponist, sondern ein Erfinder“, befand sein Lehrer Arnold Schoenberg. Cage setzte alltägliche Geräusche als Musikinstrumente ein. Der „geniale Anarchist“ hat so ziemlich jede Dimension der Musik aus den Angeln gehoben.
Die Musikkritik war verwirrt. Das Theatre Piece, befand H.H. Stuckenschmidt nach der Uraufführung, „ist eine Clownerie im technisierten Stil des Cabaret Voltaire“, . Zu welchem anderen Schluß hätte er auch 1961 kommen können — angesichts eines Komponisten, der immer wieder langsam von eins bis 22 zählt, von sechs Akteuren, die Wäsche waschen, Requisiten verschieben, Spielzeug betätigen und weitere, gänzlich unzusammenhängende Tätigkeiten ausführen? Also titelte er: „Die Dadaisten von Greenwich Village“. Das Ringen des Kritikers um contenance spricht aus jeder Zeile.
Das Epitheton „Clown“ oder wahlweise „Scharlatan“ zeigt dabei vielleicht am deutlichsten, wie wirkungsvoll John Cage so ziemlich jede Dimension der Musik aus den Angeln gehoben hat. Der Choc war nachhaltig und hat die Musikgeschichte in eine Ära vor und nach Cage geteilt.
Am 5. September 1912 wurde John Cage als Sohn eines Erfinders in Los Angeles geboren. Ein Erfinder ist auch er selbst geworden und seine musikalischen Patente sind Legion. Zunächst einmal schließt er die High School mit der höchsten jemals vergebenen Punktzahl ab, beginnt Architektur zu studieren, was ihn 1930 nach Paris und ab da immer wieder nach Europa führt. Zurück in Amerika, verdient er seinen Lebensunterhalt als Gärtner und durch Vorträge über moderne Malerei und Musik für Hausfrauen.
Im Nachhinein fällt es nicht sehr schwer, jeder seiner Tätigkeiten einen Einfluß auf sein Werk zuzuschreiben. Explizit schlagen sich seine Studien bei Henry Cowell und bei Arnold Schönberg nieder, von dem einen lernt er das „String Piano“, das Spiel im Inneren des Klaviers kennen, von dem anderen lernt er, harmonische Systeme zu vermeiden (und Schönberg nannte ihn „keinen Komponisten, sondern einen Erfinder“, s.o.).
Äußerst einflußreich ist seine Begegnung mit dem Experimentalfilmer Fischinger, dessen Diktum „Klang ist Seele der unbelebten Gegenstände“ für Cage zum Glaubensbekenntnis wurde. So schreibt er 1937 einen Text Die Zukunft der Musik — Credo, in dem er erklärt: „Wo immer wir auch sein mögen, meistens hören wir Geräusche. Beachten wir sie nicht, stören sie uns. Hören wir sie uns an, finden wir sie faszinierend. Wir wollen diese Klänge einfangen und beherrschen, nicht um sie als Klangeffekte einzusetzen, sondern als Musikinstrumente. Mit ihnen können wir ein Quartett für Explosionsmotor, Wind, Herzschlag und Erdrutsch komponieren und aufführen.“
Mangels Tonbändern, Synthesizern und anderen Technologien (1937!, da gab es nicht einmal richtige Fernsehgeräte) stellte er ein Instrumentarium aus verschiedensten Gegenständen zusammen, um ein Percussion-Orchester zu gründen. „Wir begannen, einige Stücke zu spielen, die ich ohne Instrumental- Angaben geschrieben hatte. Einfach, um noch nicht katalogisierte instrumentelle Möglichkeiten zu erforschen, die unbegrenzte Anzahl von Geräuschquellen eines Müllhaufens oder eines Wohnzimmers oder eine Küche.“ So entstand 1937 First Construction (in Metal). Neben Tourneen und Konzerten mit der Schlagzeuggruppe begann Cage Tanz-Ensembles zu begleiten.
Als er 1940 für die Tänzerin Syvilla Fort eine Musik schreiben sollte, aus Platzmangel aber nur ein Klavier zur Verfügung stand, erinnerte sich Cage einiger geräuschhafter Spieltechniken Cowells, er überlegte, bastelte, experimentierte, und damit war das präparierte Klavier erfunden (Ballettmusik ist öfter die Quelle für musikalische Innovation gewesen). Schrauben, Radiergummies, Streichhölzer und vieles andere mehr zwischen die Saiten gesteckt veränderten den Klavierklang total: es pochte, rappelte, rasselte in den feinsten Farben und Nuancen — ein vielstimmiges Schlagzeugensemble in den Händen eines einzigen Spielers. In den Sonatas and Interludes, zwischen 1946 und 1948 geschrieben, formulierte er diese Technik aus.
Dann entdeckte er die Medien, insbesondere Radios und Plattenspieler. Haarsträubend (für einen europäischen Komponisten) aber wahr: zwölf Interpreten haben in Imaginary Landscape No 4 (1951) die Aufgabe, Lautstärke und Senderknopf nach einer Partitur zu bedienen, die nichts enthält, als die Angaben, in welchem Zeitraum etwas zu geschehen hat. Das Ergebnis ist purer Zufall, natürlich, aber Musik? „Zufall ist nichts, was uns zufällt“, sagte Cage der taz in einem Interview vor zwei Jahren.
Cage spielt mit dem Zufall wie Kinder mit dem Feuer. Je unbefangener der Zugriff desto ungefährlicher das Spiel — die Europäer Stockhausen, Boulez, Pousseur und andere bemühen Theorien und ausgefeilteste Schlachtpläne (alias Partituren), um den Zufall in den Griff zu kriegen, Cage setzt ihn gezielt frei, um zu den erstaunlichsten Hörerlebnissen zu kommen. Daß dabei der Werkbegriff, das Subjekt des Komponisten (der ein Genie, ein Weltenschöpfer sein muß) und damit das Fundament der europäischen Tradition negiert wird, kümmert ihn nicht.
Es kommt alles noch viel schlimmer. 1952 fand im Black Mountain College, an dem Cage „lehrte“, der Prototyp des Happenings statt: Cage las von einer Stehleiter herab Texte über Zen-Buddhismus, Musik und von Meister Eckhardt. Robert Rauschenberg hatte die Räume mit einigen seiner weißen Bilder ausgestattet, Merce Cunningham tanzte durch die Räume und Gänge, David Tudor spielte am präparierten Klavier und schüttete Wasser von einem Behälter in den anderen. Ein herzerfrischendes Durcheinander, das auf jeglichen „Sinn“ zugunsten des Ereignisses, das Hören und Sehen des Augenblicks verzichtet.
Zu reich, um sie auch nur aufzählen zu können, sind die Betätigungsfelder, auf denen Cage innovativ war. Seine „Genialität“ bestand wohl darin, Sachverhalte so systematisch, prägnant und ökonomisch auf den Punkt zu bringen, daß sie in ihrer Eleganz einem mathematischen Beweis in nichts nachstehen. Beispiel: Wie bringt man ein normales Publikum, das wegen einem Klavierabend zusammenströmte, dazu, viereinhalb Minuten aufmerksam dem selbstproduzierten Lärm zu lauschen? Cages Antwort heißt: Tacet oder auch, ebenso schlicht 4'33''. Viel mehr ist in der Partitur nicht vorgeschrieben. Ein Pianist schreitet zum Klavier, öffnet den Deckel, geht. Buhrufe und Applaus.
Das Stück ist keine Persiflage (oder jedenfalls nicht nur) auf den Konzertbetrieb, es verleugnet nicht die Musik (oder bestenfalls die normale, die der Tasten, Pedale und Saiten), die Musik sitzt zwischen den Stühlen, sie entsteht, wenn das Publikum unruhig hin- und herrutscht. Es sind die feinen Geräusche, „die in der Welt wimmeln und wieseln“, die zur Musik werden — jedenfalls dem, der zu hören versteht. „Möge ihnen diese Stille klingen!“, wünschte Schönberg Weberns verständnislosem Publikum.
Längst ist auch in Europa aus dem „Scharlatan“ und „Dilettanten“ ein „genialer Anarchist“ geworden. Und ausgerechnet Cage, der sein Ego und alle subjektiven Absichten aus seiner Musik zu verbannen suchte, ist in den letzten Jahren zur Kultfigur avanciert. Jeder Satz wurde mitprotokolliert, jedes Notenzeichen verehrungsvoll zur Aufführung getragen. Er hat es mit mildem Lächeln und, so bleibt zu vermuten, mit innerer Unbewegtheit hingenommen. Zu seinem 80. Geburtstag ist weltweit eine solche Fülle an Konzerten und Symposien und Filmen und sonstigem Theater angesetzt worden, wie es in dieser Monumentalität einem lebenden Komponisten wohl noch nie zu Teil geworden ist. Doch die Veranstalter werden kein Geburtstagsjubiläum, sie werden Cages Todestag feierlich begehen. Kurz bevor sie seine Musik zu Tode spielen, hat er sich dem Rummel entzogen. Er ist am Mittwoch, dem 12. August, in New York an einem Schlaganfall gestorben. Frank Hilberg
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