: Herta Müller: Die Tage werden weitergehen
■ Nur eine militärische Intervention könnte die serbische Aggression stoppen
Wer jetzt noch etwas zu sagen hat, weiß, daß es längst schon zu spät ist. Daß viel, fast alles gesagt worden ist. Daß wenig, fast nichts getan worden ist. Und doch ist die Sprache — vor allem die der Politik — so deutlich wie schon lange nicht mehr eine gezielte Verwirrung.
Zu lange wurde in den Nachrichten des deutschen Fernsehens von den „abtrünnigen Republiken“ Jugoslawiens gesprochen, ohne einen Gedanken darüber zu verlieren, daß dies die Sprachregelung des großserbischen Denkens ist. Wie lange wurde und wie lange noch wird in den Äußerungen der Politiker Krieg durch „Krise“, „Konflikt“ oder „Bürgerkrieg“ umschrieben? Wie lange noch wird von den „verfeindeten Lagern“ gesprochen, nur um gleiche Schuld vorzutäuschen?
Kroaten, Muslime und Serben sind so gleichermaßen stupid, verhängnisvoll und blindwütig ins Schießen, Schlachten und Foltern verstrickt. Daß aber all das auf dem Gebiet Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas stattfindet, daß man in Serbien am hochsommerlichen Nachmittag im Café sitzt und Siegesmeldungen in der serbischen Zeitung wie Sportergebnisse liest, daß nicht nur kein Schuß fällt, kein Gesicht vor Todesangst verzerrt sein muß, sondern, wie eine Umfrage gezeigt hat, 40 Prozent der serbischen Bevölkerung mit dem Morden einverstanden sind — es wird durch Worte verschleiert.
Weshalb fällt es Westeuropäern so schwer, wenigstens das Wort „Aggressionskrieg“ auszusprechen? Und weshalb spricht man so leicht über die visuellen Eindrücke vor dem Bildschirm, den Schrecken des Auges und der „Seele“, also von dem Unvermögen, die Bilder auszuhalten? Selbstmitleid wird wichtiger als die Tatsachen. Die Angst vor den Bildern des Krieges wäre eine Verfeinerung der Sensibilität, würde damit nicht kompensiert, daß man sich mit dem Tod von Menschen abfindet.
Wem nützt der Pazifismus, der beteuert, daß er gegen jeden Krieg ist, wenn ein Krieg tobt? Wenn das Vorbild für Gesetze die Judengesetze des Faschismus sind? Wenn wir im Sommer 1992 schwarz auf weiß in der Zeitung lesen: „Menschen, die nicht serbischer Abstammung sind, dürfen sich weder in den Cafés der Stadt aufhalten noch in den Flüssen baden oder ein Auto benutzen.“ Wenn in der Drina bei Wind und starkem Wellengang 20 Leichen in der Stunde flußabwärts treiben, so daß die Menschen an Brechreiz leiden, wegen des süßlichen Gestanks der Leichen? Aus dem Wasser gefischt, sind sie mit Stacheldraht zusammengebunden, die Körper voller Folterspuren. Man tötet, als wäre das menschliche Hirn eine Schießbudenfigur auf dem Jahrmarkt: Eine Kugel bohrt sich die blutige Bahn durch mehrere Köpfe. Das ist Morden als Verzückung, als Sport. Wenn die Lippen der großserbischen Herrenmenschen „ethnische Säuberung“ sagen, können wir uns nicht hinter Interpretationen verstecken: die offizielle Bezeichnung des Mordens sagt, was sie meint und tut.
Weshalb fällt einem westdeutschen Intellektuellen, wenn er von Kroaten und Muslimen spricht, das Wort „Nationalismus“ so schnell ein und auf Serbien bezogen so allmählich, so langsam oder nie? Nationalist ist derjenige, der anderen seine Identität aufzwingt und ihnen ihre eigene nimmt. Und das tun zur Zeit die Serben.
Weshalb will ein westdeutscher Intellektueller nicht hören, daß Jugoslawien ein totalitärer Staat war und das gerne bleiben will? Daß Diktaturen, so klein das Land auch sein mag, Großmachtallüren haben und Diktatoren, auch wenn sie nicht in den Krieg ziehen können, einen Ausgleich dafür finden? Der war für Ceausescu das Gesetz, das alle Frauen zwang, dem Staat fünf Kinder zu gebären. Einem Staat, dem die Grundnahrungsmittel fehlten: Kinder ohne Milch, ohne Heizung, ohne Strom. Wenn schon kein großes Land, so doch ein großes Volk.
In Diktaturen ist Lüge und Täuschung die Hauptbeschäftigung des Apparates. Wenn ich Milosevic's Gesicht sehe, fällt mir das ganze Register der Tricks ein. Auch das Angebot regelmäßiger Inspektionen der serbischen Lager. Eines ist sicher: Wer diese Orte betritt, wird sie dümmer verlassen, als er sie betreten hat. Den wirklichen Zustand der Gefangenen werden die Serben nicht zeigen. Die zu Skeletten Abgemagerten und von Folterungen Entstellten werden sie wegbringen, und sei es von einem Ort zum anderen und sei es täglich und sei es Tag und Nacht.
Wer in seiner eigenen Biographie die Erfahrung der Diktatur nicht hat, der denkt mit Absicht oder aus Unwissenheit weit daneben. Der glaubt auch nicht, daß ein Wirtschaftsembargo Psychotherapie ist. Für die, die es verhängen, und für jeden Diktator der Welt lächerlich. Der glaubt nicht, daß keiner zum Diktator wird, der nicht Macht behalten will um jeden Preis, der nicht vorher Menschenverachtung geübt hat und tausendmal bereit ist, die Bevölkerung krepieren zu lassen. Der glaubt nicht, daß dies einer wird, weil er den Boden der Realität verlassen hat und ein Volk braucht, das nachts wie ein Teppichmuster in den Stadien im Flutlicht Fahnen schwingt und johlt.
Wer in Rumänien seinerzeit jugoslawisches Fernsehen empfangen konnte, hat solche Tito-Huldigungen gesehen. Tito lebte damals noch, doch er selber ging nicht in dieses Flutlicht. Man kam ohne den „leiblichen“ Tito aus, denn es stand eine weißverhüllte Statue da, die in den Himmel ragte. Während Tausende junger Menschen turnten, sangen und tanzten, wurde sie feierlich enthüllt. Und jeden Abend wurden im Fernsehen Volkslieder, Schlager, immer gleiche Schnulzen auf Tito gesungen. So prüde wie die rumänischen Hofsängerinnen kamen die serbischen nicht daher. Man schunkelte und zeigte Schenkel und tiefe Dékolletés. Wer die Erfahrung der Diktatur nicht in seiner Biographie hat, der sah in den serbischen Studenten auf den Belgrader Straßen friedensbewegte Demonstranten und sah nicht, daß diese nur von ihrer Angst redeten, durch eine Isolation Konsumgüter einzubüßen, aber keinen Satz zum Krieg sagten.
Titos Staat hat sich national definiert, und national war immer serbisch. Was Minderheiten dann noch bedeuten, weiß man, wenn man selber als Minderheit in einer Diktatur gelebt hat. Das weiß jeder Ungar aus Rumänien, und György Konrád gibt sich Mühe, dies punktuell zu wissen, wenn es um Siebenbürgen geht (siehe taz vom 8. August 1992). Aber prinzipiell wissen will er es nicht. Die Diktaturen haben, solange sie funktionierten, die Minderheitenprobleme im Inneren der Staaten durch den Würgegriff erstickt. Das war für Westeuropa angenehm. Man hat es akzeptiert, hat es wie so vieles andere gar nicht wissen wollen.
Weshalb wundert sich ein westdeutscher Intellektueller darüber, daß Slowenien, Kroatien, Bosnien- Herzegowina, das Kosovo die erste historische Möglichkeit wahrnehmen wollten, um vom serbisch-nationalen Jugoslawien wegzukommen, wenn Deutschland selber diese erste Gelegenheit, sich zu vereinigen, genutzt hat? Die Deutschen aus der DDR erstickten an der Diktatur. Sie waren keine Minderheit in ihrem Land. Die Kroaten und Muslime erstickten zweimal: einmal an der Diktatur und einmal an der unterdrückten nichtserbischen Identität. Und nach diesem doppelten Ersticken sah man, daß Belgrad nicht zu mehr bereit war als zu einer schönheitschirurgischen Veränderung. Die gravierenden wirtschaftlichen Nachteile kamen dazu, alles verschwand in Belgrad, einem Sack ohne Boden.
Eine grobe Fälschung, ein Abwiegelungsspiel ist es auch, wenn man eine militärische Intervention als Krieg bezeichnet. Wenn man ein Schlachtbild mit hunderttausend UNO-Saldaten malt, eine Materialschlacht mit Schützengräben und Suppe im Blechtopf, Soldaten mit Gewehr und Tornister, denen heimtückischer Karst unter den Schuhsohlen bröckelt. Ein Krieg also „von Mann zu Mann“. Die Wehrmacht bringt man ins Spiel, als ginge es darum, ein Land zu erobern, und nicht, einen Krieg zu beenden. Dabei weiß man, daß man nur die Nachschubwege zerstören müßte, auf denen die schweren Waffen aus Belgrad rollen, die Abflug- und Landebahnen der serbischen Militärflugplätze. Und diese Orte sind keine Stadtzentren und Tummelplätze der Zivilbevölkerung. Daß man nur ein Zeichen der Drohung geben müßte, das große Maul von Milosevic würde klein. Statt dessen standen die UNO- Soldaten in der Verwüstung herum, spielten aus Langeweile Fußball mit den serbischen Tschetniks, handelten sich ihrer Ratlosigkeit und der weißen Kleidung wegen den Spitznamen „Eisverkäufer“ ein.
Und Milosevic tanzt auf dem Nabel der Welt, deren sanfte Gesten ihn zu seinem Kriegsrausch ermutigen. Und Panic fliegt als schwarze Taube zu den Konferenzen, zeigt sein Gaunergesicht und drischt sein Stroh am langen Tisch. Ein Scharlatan und ein Pharma-Millionär, aus Amerika angeschwirrt, weil ihm dieser politische Glanz noch fehlte. Einer, der schon vor Jahren den Aids-Kranken weiße Pillen verkaufte, im besten Fall gepreßt aus Wasser und Mehl wie in der Kirche die Hostie. Und so viel haben die auch geholfen. Und das hat ihn so wenig gekümmert, wie es ihn heute kümmert, wenn er hundert Tage verlangt, um Frieden zu machen. Und er wird überall eingelassen und gehört. Und es wird ein Waffenstillstand nach dem anderen spazierengeführt um den langen Tisch von einem Mund zum anderen. Und dann wird die Mappe zugeklappt, man steht auf, und die Stuhlreihe kühlt aus, während man im Flugzeug blaue Lüfte sieht und sein Fläschchen Schaumwein trinkt. Und in dieser Zeit wurde wieder und wieder geschossen, geschlachtet, gefoltert.
Und George Bush zieht die Augenbrauen zusammen, weil er gerade von Saddam Hussein redet, und zieht seinen Außenminister für den Wahlkampf aus dem Verkehr auf die geschmückte Bühne. Denn Reagan ist auch schon da, und die porzellanhauchige Nancy winkt und zeigt die bleichen, goldbestückten Finger.
Schwarzmalerei ist gefragt. Wer sich darin betätigt, wirkt informiert und sensibel. In Deutschland gibt es dafür viele Spezialisten. Die haben schon zur Einsicht in die Stasi-Akten Bilder von ausgehebelter Justiz und Selbstjustiz und Racheakten gemalt, so als hätte es für dieses Stück Geschichte eine andere Alternative gegeben, als hineinzusehen und darüber zu reden. Das ist geschehen, und was von all den Prophezeiungen des Bösen ist danach eingetreten? Nichts. So könnte es auch sein, wenn sich die UNO entschließen würde, endlich diesen Krieg zu beenden. Verschlimmern könnte eine Intervention nichts. Es kann sein, es wäre bald Frieden. Eine traurige Nachkriegszeit mit viel Schutt und Friedhöfen, wo die Erde noch so hart von den frischen Erdschollen ist, daß Blumen erst im nächsten Sommer wachsen. Doch es wären viele noch am Leben, die im Zögern der UNO noch sterben werden und in der Kälte des kommenden Winters. Nur durch diesen Ausgangspunkt könnte Serbien dazu gebracht werden, die eroberten Gebiete zu räumen. Nur so könnten die Flüchtlinge wieder heimkehren — und sei es ins Nichts. Die Theoretiker und Pragmatiker könnten wieder über Europa reden. Vielleicht sogar mit einem ruhigeren Atem als jetzt.
Spricht jemand vom Balkan, so hört man sehr bald die ungeheuerliche Matapher „Pulverfaß“. Das sei der Balkan immer schon gewesen, sagt man. Dadurch wird das, was jetzt geschieht, zu einer härteren Nuance des ohnehin gegebenen Zustands erklärt. Auf Dauer, sagt man, könne man das nicht ändern. Es könne immer wieder das Gleiche passieren. Der Konjunktiv regiert das Denken. Und wenn es so wäre, müßte man dennoch diesen Krieg beenden. Von innen, von selber läuft er nicht aus. Oder erst dann, wenn die „ethnische Säuberung“ vollbracht ist und Kroaten und Muslime unter der Erde sind.
Dann haben viele weltweit zugesehen und um Formulierungen wie „Krise“, „Konflikt“, „Bürgerkrieg“ gerungen. Worte wie „Internationaler Gerichtshof“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Völkermord“ werden Sprechblasen bleiben. Die Politiker werden am gleichen langen Tisch sitzen und die gleichen Stühle wärmen.
Und die Tage werden weitergehen. Aber wohin?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen