: Aus der Klempnerforschung
Über eine Untersuchung spätmittelalterlicher kommunaler Bordelle ■ Von Christel Dormagen
Wenn denn wirklich, wie Heraklit gesagt haben soll, „alles fließt“, wären sämtliche Regelungsmaßnahmen in komplexeren Gesellschaften nichts anderes als Kanalarbeiten. Und der antike wie der neuzeitliche Staat wären jeweils Direktorium und Aufsichtsrat einer sich immer weiter verzweigenden Kanalisation. Überall müssen seit jeher Ströme befördert, reguliert, gestaut, gelenkt, abgeschöpft und ausgetrocknet werden: Wasser- und Abwässerströme, Verkehrsströme, Soldaten-, Waren-, Geld- und Scheißeströme. Nicht zuletzt auch die gefährlichen unterirdischen Triebströme. Und es wären die Historiker, die durch alle Zeiten hindurch jene Ingenieurs-, Verwaltungs- und Klempnerarbeiten erforschen und erhellen. Nach dem Motto jener schönen Fünfziger-Jahre-Haushaltsratgeber: Wie funktioniert denn das?
Peter Schuster, Jahrgang 57, Mathematiker und promovierter Historiker, ist solch ein Strömungswissenschaftler. Er hat sich, gewissermaßen mit Biberfleiß, auf ein merkwürdiges und bislang wenig systematisch erforschtes Phänomen geworfen: die Entwicklung der institutionalisierten Prostitution im deutschen Spätmittelalter. Es gab zwischen 1350 und 1600 in fast allen Städten und Gemeinden des deutschsprachigen Raums Bordelle, die „Frauenhäuser“ hießen und geradewegs das Gegenteil dessen waren, was wir heute darunter verstehen. Männerzutritt war dringend erwünscht und stand ebenso erwünschterweise unter städtischer Aufsicht.
Nun ist jener Gegenstand — gerade auch angesichts seines modernen feministischen Gegenstücks — einigermaßen heikel. Die Regulierung etwa von Scheißeströmen im Wandel der Zeiten läßt sich unbefangener darstellen als die der Sexualität, was die so beliebte vergnügliche Bildungslektüre über menschliche Alltagskultur angeht. Das weiß der Autor und begibt sich also auf den altehrwürdigen imaginären Ausguck des objektiven Wissenschaftlers, der akribisch in Archiven wühlt und in mühsamer Recherche Daten und Fakten zutage fördert, sich eigener Meinungen und Urteile aber redlich enthält. Denn, so zitiert er in seiner Einleitung einen Gewährsmann von 1920: „Wer die Prostitution erforschen will, dem soll sie kein Übel und kein Gutes sein, sondern eben eine Erscheinung, auf deren ,Gesetzmäßigkeit‘ es ihm ankommt; urteilen, moralisch werten ist viel leichter als ,voir clair dans ce qui est‘.“
Und in der Tat, man erfährt Erstaunliches über jene spätmittelalterlichen „Gesetzmäßigkeiten“, die Schuster aus Chroniken, Stadtarchiven, Ausgabenlisten und Verhörprotokollen herausgefiltert hat. Entstanden sind die städtischen Bordelle ziemlich zeitgleich in Spanien, Italien, Frankreich und eben auch dem deutschsprachigen Raum; in der Zeit wachsender Urbanisierung und nach den europäischen Pestheimsuchungen boten sie eine Art „innerer Stabilität“ gegen „äußere Erschütterungen“. Geschlossen wurden sie dann, im Zuge verschärfter Moralkontrolle, mit Beginn der Reformation als unchristliche Lasterhöhlen.
Neu an diesen Frauenhäusern war nicht die Tatsache der Prostitution, sondern nur die obrigkeitliche Organisation. Denn: „Wir müssen auch für das Mittelalter davon ausgehen, daß Prostitution weder erfunden noch importiert wird, sondern in jeder hinreichend entwickelten Gesellschaft mit einer monogamen Gesellschaftsverfassung existiert.“ Legitimiert sah sich die Obrigkeit durch die nicht nur stillschweigende Duldung der Kirche. Denn seit Augustinus (4. Jh.) galt es als zulässig und, um des Seelenheils der Mehrheit willen, erforderlich, das kleinere Übel zu gestatten, um das größere zu verhindern („mit ainem bösen ain ergers zu fürkommen“). Das „Ärgere“ war dabei die sexuelle Belästigung von Bürgerstöchtern und Ehefrauen durch junge sowie ledige Männer, die irgendwo hinmußten mit ihrem drängenden Trieb. Und wieder beruft Schuster sich in distanzierlicher Urteilsfreiheit zur Beglaubigung auf einen Kollegen von 1987: „Männer, so das Menschenbild nicht nur des Mittelalters, ,have a natural appetite or carnal relations with women‘.“ Und da lag es, mit einem zugedrückten Auge, auch im Sinne der Kirche, daß „ordnungspolitische Maßnahmen“ zur Kontrolle der bislang wild mäandernden Prostitution ergriffen wurden. Denn Beischlaf war nur für den Nachwuchs da und deshalb nur in der Ehe gestattet, aber, s.o., der Trieb, der Trieb! „Im Verständnis der Obrigkeit erfüllten die Frauenhäuser die Funktion einer Grundversorgung der Stadt mit Prostituierten.“
Wie sah nun dieser Grundversorgungsbetrieb aus? Die städtischen Träger verpachteten die Häuser an „Frauenwirte“ (auch -wirtinnen), die für den geregelten Ablauf sowie das Wohl der Frauen zu sorgen hatten. Oft mußten sie sich dazu der Kommune extra per Eid verpflichten. Im Unterschied zu heute hatten die Insassinnen tatsächlich einige Rechte, die sie vor Willkür schützen sollten. Es gab feste Öffnungs- und Schließzeiten, genormte Preise, das Anrecht auf Kirchgang und Krankenversorgung, auf Teilnahme an Hochzeiten und Tanzfesten, auf zum Teil detailliert im „Frauenwirtseid“ festgelegte Speisepläne (... „soll Er in der Vasten ainer yden Frawen... geben ainen Häring, und ... außerhalb der Vasten ain par Ayer...“). Während ihrer Menstruation hatten die Frauen keinen Dienst; sie durften sogar aussteigen, und wenn sie sich beim Frauenwirt mit Essens- und Kleidergeld verschuldet hatten, bezahlte die Stadt für die bußfertigen Aussteigerinnen die Ablösesumme. Denn christlicherseits war die reuige Rückkehr noch wertvoller als der Dienst am kleineren Übel. Aus diesem Grunde wurde in der Regel auch niemand reich am Frauenhaus (wenn man von den durchaus dort getätigten dunklen Geschäften absieht). Die Stadt durfte sich nicht an der Sünde Sold bereichern und reichte die Abgaben teilweise als Almosen weiter; der Wirt wiederum erhielt nur ein Drittel des Hurenlohns und hatte der Stadt gegenüber häufig Extrapflichten. Und der Preis für den Gebrauch einer Frau war auffallend niedrig. „Der Bordellbesuch erforderte keine Ansparzeit, er konnte selbst von einem Tagelöhner aus dem ,cash-flow‘ bestritten werden, auch wenn es vielleicht manchmal den halben Tageslohn kostete.“ Nur „Schlafmänner“, solche also, die über Nacht blieben, zahlten mehr.
Generell war das Frauenhaus nämlich ein unverborgen zum städtischen Leben gehörender Tagesbetrieb, ja, ein „Wirtshaus mit Animation“ und „Bestandteil der Freizeitkultur“. Kurzum: „Die Möglichkeit, sich im Frauenhaus in mehr oder weniger erotischer Atmosphäre (sic!) unterhalten zu können, war Teil der spätmittelalterlichen Stadtkultur.“ Für das hartnäckige Klischee vom außer Rand und Band geratenen sinnenfrohen Mittelalter findet der Autor allerdings keinen Beleg und verwahrt sich auch ausdrücklich dagegen. Und das nicht nur, weil ohnehin alle Kopulationsweisen außer der „Missionarsstellung“ unter Strafe standen. Aber angeblich handelte es sich in den Häusern ja auch nicht um böse Zügellosigkeit, sondern um gute Erotik.
Selbst mit der „Gewalt“ sah es relativ zivilisiert aus, bekundet die Aktenlage. Dazu nun meine beiden Lieblingszitate: „es (sind) insgesamt die Prostituierten, die unter der Gewalt am meisten zu leiden hatten. Endres Bawman überfiel 1510 eine Prostituierte, riß ihr an den Haaren und erhielt zur Strafe ein einjähriges Wirtshausverbot.“ Die Gewalt in den Frauenhäusern habe, in Prozenten gerechnet, so der Autor, ziemlich genau die allgemeine Gewalt in der Gesellschaft gespiegelt. Oder, in der streckenweise hilflos bis falschen Mathematikersprache: „Das Gewaltaufkommen im Frauenhaus ist ein Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der spätmittelalterlichen Stadt.“
Da möchte ich doch mal anmerken dürfen, daß der Satz objektiv auch ein Abbild des objektiven Wissenschaftlerhirns ist. Denn das kommt dabei heraus, wenn man in den Archiven lauter zerbrochene Stuhlbeine und ausgerissene Haare zählt. Die doch wohl auch Schuster bekannte strukturelle Gewalt mußte sich nicht einmal besonders raffiniert tarnen, um natürlicher Bestandteil seiner Strömungslehre zu werden. Spätestens wenn zum zehnten Mal das Lieblingswort des Klempnerforschers, das Ventil, auftaucht, platzt einem selber selbiges: „Jungen unverheirateten Männern wurde ein geordnetes Ventil zur Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse bereitgestellt.“ Über außergewöhnliche Ereignisse wie Messen, Reichstage und Konzile heißt es dann noch daneben: „Alle diese Anlässe zogen eine Vielzahl von Männern an, die die Ventilfunktion des bestehenden Angebots schlichtweg überfordern mußte“, weswegen zusätzliche „fahrende Frauen“ anreisen durften. Sexualität ist, mit Verlaub, eben keine Scheiße, kein Tabak, kein Pfeffer, kein Erz und kein Geld. Sie ist kein Abfall und kein Rohstoff. Sie kann allerdings durchaus zur Ware werden, die aus dem Rohstoff Frau gewonnen und gemeingefährlich verstopften männlichen Konsumenten als Rohrreiniger für freien Abfluß angeboten wird.
Man kann sich, denke ich, 1992 nicht mehr aus dieser irgendwie ja doch diffizilen Affäre ziehen, indem man — faktenstrenger, meinungsfreier Wissenschaftler, der man ist — aus der 10. Auflage 1960 des alten Schelsky zitiert, wenn es darum geht, das Frauenhauswesen als „sozialverträglichste Form“ (Schuster) des Ausgleichs zwischen strengen monogamen Sexualnormen und dem männlichen Appetit zu rechtfertigen: „Zur Sicherstellung der Einhaltung dieser strengen Normen ,gehörte (es) dann sozusagen zu der institutionellen Weisheit einer Gesellschaft, das hochgespannte Moralsystem sich geordnet abladen zu lassen‘.“
Sexualität ist, um es noch mal zu sagen, kein Naturwunder, sondern ein kultureller, ein höchst gesellschaftlicher Sachverhalt. Ohne eine irgendwie geartete Theorie über diese Gesellschaftlichkeit von Sexualität — wie sie etwa zum Beispiel Foucault bietet, der sich ebenso besessen durch Archive gelesen hat— gerinnen all die beachtlichen Fakten zu Merkwürdigkeiten aus der Welt des Ameisenstaats oder mittelalterlichen Überlauftechniken. Und schließlich schleicht sich aus der theorielosen Datenfülle heimlich und hinterrücks doch die eine, die natürliche und unbewußte Selbstverständlichkeit hervor. Die nämlich, daß Männer unter Dampf stehen und Frauen ein Ventil sind. Das war so, und das ist so. Auch wenn heute die christlichen durch ein paar moderne Bedenken ersetzt worden sind. Da lese ich nämlich auf der letzten Seite im obligatorischen Ausblick: „Heute stehen wir bezüglich der Bordelle wieder vor den gleichen Problemen wie vor 600 Jahren. Prostitution als gesellschaftliches Phänomen wird als Entwürdigung der Frau oder als unmoralisch bewertet, gleichzeitig herrscht ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die Notwendigkeit der Prostitution.“ Das mit der Entwürdigung wird die Weisheit der Gesellschaft schon richten. Wenn's sein muß, mit ein paar Zusatzventilen.
PS: Ein Hinweis für VoyeurInnen: Das Buch enthält keine Abbildungen, aber jede Menge sehr schöner Zitate in Originalfassung.
Peter Schuster: „Das Frauenhaus. Städtische Bordelle in Deutschland (1350-1600)“. Schöningh 1992, 240 Seiten, 48 Mark.
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