Berlin trauert um Willy Brandt

■ Gestern morgen wurde auf Halbmast geflaggt/ Trauer bei allen Berliner Parteien/ Schweigemarsch gestern abend vom Rathaus Schöneberg zum Brandenburger Tor

Berlin. Nach der Nachricht von Willy Brandts Tod wurde gestern in ganz Berlin auf Halbmast geflaggt, verschiedene Rundfunksender änderten kurzfristig ihr Programm. Gestern abend fand ein Trauermarsch statt, zu dem die Berliner SPD und der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen aufgerufen hatten. Der ehemalige SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel flog gestern aus Bonn ein, um an dem Schweigemarsch teilzunehmen. Gestern nachmittag wurden im Rathaus Schöneberg und im Roten Rathaus Kondolenzbücher für den ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin ausgelegt.

Der heutige Regierende Bürgermeister Diepgen würdigte Brandt als eine »prägende Persönlichkeit des politischen Lebens der Bundesrepublik«. Als Regierender Bürgermeister vor und nach dem Bau der Mauer habe er Berlin durch eine stürmische Zeit geführt. »Er verkörperte damals ein neues, weltoffenes Deutschland«, sagte Diepgen gestern. »Der frühere sozialdemokratische Bundeskanzler gab dem Land entscheidende politische und intellektuelle Impulse.«

Willy Brandts großes Ziel war die Einheit Berlins und Deutschlands, »kleine Schritte der Weg dahin«, würdigte Diepgen die Ostpolitik Brandts. »Seine persönliche Ausstrahlung, seine Fähigkeit, sachlich zu überzeugen und zugleich Herzen zu erwärmen, ermöglichten eine Politik, die Entspannung suchte, ohne Prinzipien aufzugeben.« Sein Satz über die Ereignisse des November 1989 — »Jetzt wächst wieder zusammen, was zusammengehört« — habe Geschichte gemacht.

»Ein großes Leben ist zu Ende gegangen. Die Berliner SPD weint um ihr Mitglied Willy Brandt«, erklärte die amtierende Landesvorsitzende der SPD, Monika Buttgereit. »Wir können noch gar nicht ermessen, wie groß die Lücke ist, die sein Tod reißt.« Brandt sei im besten Sinne ein Idol gewesen. Er habe es wie kein anderer verstanden, politische Inhalte mit der angemessenen Symbolik zu vermitteln. »Wir verlieren eine Persönlichkeit von historischem Rang.«

»Eine Persönlichkeit wie Willy Brandt ist nicht zu ersetzen«, sagte auch der Berliner SPD-Fraktionsvorsitzende Ditmar Staffelt. »Er war die Verkörperung des Prinzips Hoffnung — für eine ganze Generation.« Als großen europäischen und deutschen Politiker hat Berlins ehemaliger Regierender Bürgermeister Walter Momper (SPD) Willy Brandt gewürdigt. Er habe vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur deutschen Einheit alle Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte durchlebt und durchlitten. Momper erinnerte daran, daß Brandt in einer schlimmen Phase des Kalten Krieges Berlins Regierender Bürgermeister gewesen sei. Er stehe für die internationale sozialdemokratische Bewegung und gegen engstirnigen Nationalismus und für die Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas. Er sei auch Mahner gewesen, daß der Ausgleich mit den armen Völkern der Dritten Welt Gegenstand der Politik der reichen Industrieländer sein müsse. Berlins Bürgermeisterin Christine Bergmann (SPD) erinnerte daran, daß Brandt für die Menschen im Osten Deutschlands die Hoffnung auf Veränderungen aufrechterhielt. »Die von ihm bewirkte Öffnung nach Osten, die kleinen Schritte der Annäherung haben uns das Gefühl gegeben, nicht abgeschrieben zu sein, haben uns Mut und Kraft zum Aushalten gegeben.«

Auch die brandenburgischen Sozialdemokraten trauerten gestern: Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) würdigte Brandt als großen Sohn des deutschen Volkes, der auch im Ausland höchstes Ansehen genossen habe. Mit seinem lebenslangen Einsatz für Freiheit und soziale Gerechtigkeit, für die Würde aller Menschen, hieß es in Potsdam, »gibt er uns die einzig mögliche Orientierung, mit der die Zukunft der Menschheit gesichert werden kann«.

Als treuer Freund der Menschen im Osten Deutschlands habe Willy Brandt die Mauer miterlitten und mit seiner Politik der kleinen Schritte zu ihrer Überwindung beigetragen, sagte der gegenwärtig in Frankreich weilende Stolpe in einem Interview. Für die Sozialdemokraten im Osten werde Brandt ein Vater bleiben.

Auch die CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus gedenkt Brandts »mit Achtung«. CDU-Fraktionschef Klaus Rüdiger Landowsky erklärte, die Berliner CDU sehe sein Wirken mit Achtung und trauere um einen großen Berliner.

Für die Fraktion Bündnis90/ Grüne erklärte deren Vorsitzende Sibyll Klotz, mit Brandt hätten die Deutschen einen aufrechten Demokraten verloren. »Willy Brandt war für die Bürgerinnen und Bürger beider deutscher Staaten gleichermaßen Integrationsfigur — er war — erinnern wir uns an die Bilder aus Erfurt von 1972 — in der Tat so etwas wie ein Einheitskanzler.«

Mit tiefer Trauer und Betroffenheit reagierte der Vorstand der Jüdischen Gemeinde zu Berlin auf den Tod Brandts. Mit ihm »verläßt uns in Zeiten schwerer moralischer Krise der Mann, der gleichsam zum Symbol der aufrichtigen Aufarbeitung der finsteren Vergangenheit in Deutschland wurde«. taz/dpa