piwik no script img

Die Sprache der Nerven

■ „Der Körper. Der Kopf. Der Körper“: Ein Stück nach Texten von Daniel Paul Schreber im Hebbel Theater

Da sah einer die Sterne tanzen und fand es nicht weiter verwunderlich. Denn auch seine Nerven schienen ihm nichts weniger als Strahlen Gottes. „Nur die Plejaden seien vielleicht noch zu retten, auch dieser oder jener Stern“, schrieb er und fuhr fort: „Bald tritt in den Visionen die Vorstellung eines Weltuntergangs aus Anlaß meines Falles in den Vordergrund.“

Ein Delirium des Geistes, dem auch schon Freud seine Aufmerksamkeit gewidmet hat und das sein Urheber, sofern von ihm noch als Person gesprochen werden kann, getreulich zu Papier gebracht hat in jener Nervenklinik, in die man den Senatspräsidenten am Oberlandesgericht Dresden, Daniel Paul Schreber, 1902 verbringen mußte. Der Jurist war irre geworden. Ein Jahr schrieb er unter Aufsicht der Ärzte seine „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, wie er seine Aufzeichnungen nannte. Sie faszinieren bis heute. Sehr sichtbar bis in die einzelnen Muskeln hinein faszinierten sie auch den Tänzer Marius van Lee, der unter der Regie von Urs Troller diesen Exzessen des Denkens einen scharfsinnig antagonistischen Ausdruck verleiht. Van Lee zeigt nicht die kosmische, symbolistische Poesie der Schreberschen Texte, er zeigt ihre Krankheit als Skulptur des menschlichen Körpers. Die Zürcher Bühnenbildnerin Lilot Hegi hat ihm dafür ein schiefes Fünfeck als Spielfläche gebaut, hinten ragt die Angelrute eines Riesen empor, an der Angel scheint ein Kopf zu hängen, der abgeschnitten auf der Fläche liegt. Er gehört dem Schauspieler Georg Martin Bode, dessen Körper wir nicht sehen. Nur der Kopf spricht, es kommt aus ihm heraus, präzise und deutich artikuliert, ohne jede Leidenschaft, es sei denn diejenige der wissenschaftlichen Akribie, des übergenauen Notierens vollkommen unverständlicher Phänomene.

Von Lee tanzt dazu nicht, er analysiert die Sätze mit seinem Körper, oft genügt ihm die Bewegung eines Fingers, die Wölbung des atmenden Bauches, um den Anfang einer Vision zu markieren. Sie wird ihn fortreißen, die Muskeln in schmerzhafte Spannung versetzen, Schulterblätter rollen, der Hals streckt sich, der Rumpf biegt sich zur Seite, im meist blauen Bühnenlicht steht ein hundertmal gebrochener Titan einsam auf der Bühne.

Schreber ist das nicht, sein Kopf spricht ungerührt weiter, und auch nicht Nietzsches Übermensch, an den diese Allmachtsneurose allzugerne erinnert. Van Lee und Troller haben einen wichtigeren Zug der Texte ernstgenommen, nämlich ihren selbstdiagnostischen Charakter. Daniel Paul Schreber schrieb, als wisse er genau um seinen Zustand, Trollers Textarrangement beginnt deswegen mit höchst einleuchtenden Passagen über die Funktion menschlicher Nerven. In ihnen sei „die menschliche Seele enthalten über die Fähigkeit, die Erinnerung an die empfangenen Eindrücke festzuhalten“.

Van Lee möchte diesen biologischen Speichern nachgehen, sein minimalistischer Tanz versucht, diese Nervensprache zu sprechen. Dafür fehlt allerdings mitunter das Vokabular. Das Bedürfnis, nun doch aus den Verkrampfungen der Muskeln und Sehnen auszubrechen, führt zu einigen impulsiven Abschnitten in dem einstündigen Solo, die vor allem die Stereotypen des Ausdruckstanzes wiederholen: schnelle, abgehackte Armbewegungen, Stampfen und dergleichen. Immerhin wird mit Hilfe dieser Banalitäten erst recht sichtbar, worin der Unterschied zwischen dem bloßen Ausdruck einer Empfindung und der Empfindung selbst liegt. Das erste bedarf der Symbole, das andere des Körpers. Van Lee sucht nur ihn, den Körper der Muskeln und Fasern, aber – auch das ist schmerzhaft lehrreich zu sehen – so kann er nicht mehr tanzen, er verkrümmt sich bloß zu diesem unförmigen Haufen Fleisch, einem Rücken ohne Kopf und Beine, mit der diese bemerkenswerte Aufführung schließt. Niklaus Hablützel

„Der Körper. Der Kopf. Der Körper.“ Mit Marius van Lee und Georg Martin Bode, Regie: Urs Troller, Bühne: Lilot Hegi. Koproduktion des Schauspielhauses Bochum und des Hebbel Theaters. Noch bis 4. 11. Stresemannstraße 26, 20 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen