: Wenn Kinder nicht mehr hüpfen können
■ Immer mehr Schulkinder zeigen Bewegungs-Störungen / Stadt bietet zu wenig Raum / Expertentagung in Bad Segeburg
/ Stadt bietet zu wenig Raum / Expertentagung in Bad Seegeberg
„Die Kinder können nicht mehr turnen“, beklagt Albrecht Pluns, Sportlehrer an einem Poppenbütteler Gymnasium. Viele seiner Schüler würden selbst einfache Übungen, wie das gleichzeitige in die Luft Springen mit beiden Beinen, nicht mehr zustande bringen. Den Grund dafür, daß etwa ein Drittel seiner Schüler nicht die normale ihrem Alter gemäße Beweglichkeit hat, sieht der Pädagoge in einem Mangel an früher Übung: „Sie klettern nicht mehr auf Bäume, balancieren nicht auf dem Kantstein, hüpfen nicht von Mauern“.
Immer mehr Kinder zeigen Verhaltensauffälligkeiten und Störungen, die in Art und Umfang neu sind. Darin war sich Albrecht Pluns mit rund hundert ÄrztInnen, ErzieherInnen und PädagogInnen, die am Wochenende unter dem Titel „Gestutzte Chancen“ zu einer Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Segeberg zusammenkamen. Die Kinderfachleute beobachten in Schulen und Kindergärten schon bei den Jüngsten nicht nur körperliche Unruhe und gestörtes Bewegungsverhalten, sondern auch zunehmend Konzentrations-, Sprach-, Lese- und Rechenschwächen. Dabei sehen die Experten eine entscheidende Ursache im Bewegungsmangel. Es gibt schlicht zuwenig Platz, wo sich Kinder austoben können.
Aus Sorge lassen viele Eltern ihre Kinder nicht mehr unbeaufsichtigt zum Spielen nach draußen. Besonders Mädchen seien von diesem Verbot betroffen, weil ihre Eltern Angst vor „sexueller Bedrohung“ hätten, berichtete die Soziologin Ursula Nissen auf der Tagung. Aber auch das stundenlange Fernsehen behindert die kindliche Entwicklung. Vor der Glotze, so Pädagogik-Professorin Renate Zimmer, werden die Kids mit akustischen und optischen Reizen vollgepumpt. Dabei bleiben die eigene Bewegung, Tast- und Gleichgewichtssinn auf der Strecke. Gerade diese Sinne aber seien Voraussetzung auch für mathematische und sprachliche Fähigkeiten, erklärt die Wissenschaftlerin, denn „begreifen kommt von greifen“.
Die jungen TV-Konsumenten würden in „geistige und körperliche Starre verfallen“, hinterher sei ihr aufgestauter Bewegungsdrang um so größer. Wenn sie ihn nicht ausleben können, sitzen die SchülerInnen am nächsten Tag zappelig im Unterricht. Die Professorin fordert mehr Spielraum für selbständige Aktivitäten. Alte Kisten, Bretter und Schlammpfützen seien besser als fertiges Spielzeug. „Wenn alles komplett und perfekt ist, bleibt Kindern oft nur die Zerstörung“.
Auf die eigene Initiative setzt auch der 1992 in Hamburg gegründete Verein „Kinder in der Stadt“ (K.I.D.S.). Als Freier Träger will er in Hamburg nach dem Vorbild der Kindergärten im norditalienischen Reggio Emilia neue Kindertagesstätten bauen. Auf der Tagung erzählte Mitbegründerin Anke Steenken vom „Zauber dieser Häuser“, wo die Kinder wenig Spielzeug vorfinden, dafür Werkstätten und viel Material zum Selbermachen. Vera Stadie
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen