piwik no script img

Doc-Power in der Provinz: Ambition und Amüsement

■ Die Medienwerkstatt „DokumentART“ Neubrandenburg

In knapp vier Tagen um die halbe Welt: das Programm der Internationalen Medienwerkstatt im mecklenburgischen Neubrandenburg nimmt Kurs auf fremde Kulturen und ferne Kontinente, frei von Vorurteilen, Verklärungen und verstellten Perspektiven. Ein kulturpolitisches Signal aus der strukturschwachen Provinz, initiiert von vier Vereinen im nördlichsten der neuen Bundesländer, das sich als Fortführung und Neuanfang des früheren Nationalen Dokumentar- und Kurzfilmfestivals der Ex-DDR versteht.

In über 50 Arbeiten aus 15 Ländern will die neuartig konzipierte „DokumentART“ Größe und Grenzen des Genres erkunden und hinterfragen und damit grenzüberschreitende künstlerische Potenzen und Prozesse im ambitionierten Dokumentarfilmschaffen fördern. Von A wie „Addio o Arrivederci“ der beiden Sizilianer Franco Maresco und Daniele Cipri bis Z wie „Zaire. Der Kreis der Schlange“ von Iherry Michel aus Belgien – ein filmischer Aufriß neuer Horizonte, abseits vom exotischen „Traumschiff“-Idyll und meilenweit entfernt von der bloßen Bebilderung von „Tagesthemen“.

Ambition und Amüsement schließen einander keineswegs aus, wenn das Ferne ungewohnt nah rückt, der Blick auf eine scheinbar allzu vertraute Welt nebenan fällt oder das nicht selten eingeschliffene Selbstbild irritiert wird.

Den fast völlig heruntergekommenen Diskurs über Film und Wirklichkeit, der das stark angekratzte und wenig attraktive Image des Dok-Films zumindest mitverschuldet hat, will ein öffentlicher Workshop „Werk statt Wunsch“ auf die Höhe der Zeit heben. Dazu wird neben Romuald Karmakar (dessen provokanter Söldner-Reportage „War Heads“ jüngst der Segen der Wiesbadener Filmbewerter verwehrt wurde) und Harun Farocki („Videogramme einer Revolution“) Bose Oviduiu Pastina aus Bukarest erwartet, der sein bestürzendes Dokument der rumänischen Revolution in Neubrandenburg welturaufführen wird. Weitere Erstaufführungen kommen von den beiden jungen Slowaken Milan Ježik („Tehla“) und Martin Štrba („Šmyk“), vom renommierten ungarischen Ferenc Grunwalsky („Napról napra“) sowie vom Mecklenburg-Vorpommern-Film e.V. finanzierte Produktionen.

In eigenen Programmblöcken präsentieren sich das Budapester Studio Junger Kpünstler „FMS“, die Hamburger Medienkooperative „die thede“ und die ehedem legendäre Super-8-Szene aus der Endzeit der DDR. Zu den radikalsten Beiträgen zählt – neben einer Sonderaufführung von „Lektionen in Finsternis“ Werner Herzogs „Requiem für einen unbewohnbaren Planeten“ – das filmische Testament des niederländischen Fotografen Ed van der Elsken. Als er im Herbst 1988 von seinem nahen Tod erfuhr, begann er die verbleibende Zeit seines Lebens auf Video aufzuzeichnen. „Bye“ wurde zum visuellen Tagebuch eines unabwendbaren Abschieds, schmerzlich und schonungslos, der im Film zu seiner eigentlichen Bestimmung findet. Die Kamera als ultimative Herausforderung: Kino in seiner endgültigen Mission.

Als vor annähernd hundert Jahren die Bilder laufen lernten, brachte die Erfindung der Kinematographie den Starrsinn der Welt ins Wanken. Wo immer und wozu fortan Schlachten geschlagen wurden, die Kamera war stets zur Stelle als Zeuge der Geburt neuer Welt-Bilder. Mittlerweile ist dem Publikum ob der tolldreisten „kinetischen“ Beschleunigung längst Hören und Sehen vergangen, beschreiben Kritiker die verzweifelte Treibjagd auf vermeintliche Ereignisse am heimischen TV schlicht als virtuellen Kriegszustand.

Ein sich buchstäblich selbst überholender Fortschritt droht alle Entdeckerlust und jedes Erstaunen hoffungslos zu überrollen. Wo aber Wirklichkeit und Wahrnehmung endlos auseinanderfallen, bleibt das vereinzelte Ich außen vor, ohne Chance der Anteilnahme für das, was es nicht wahrhaben kann und will. Eine Diskrepanz mit sichtlichen Entsprechungen: der moderne Mensch verloren im Dickicht der Bilder. Am Anfang der (Film-)Geschichte war noch jedes einzelne Bild dokumentarisch, jeder belichtete Meter Film zugleich ein Dokumentarfilm – lange bevor sich Traumfabriken der Seh- und Sehnsüchte des Publikums massenhaft bemächtigten. Höchste Zeit, wider die Trägheit des Auges zur Authentizität des Augenblicks zurückzufinden. Ein Anliegen der DokumentART 93, die am gestrigen Freitag mit einem Opening-Spektakel des Kammertheaters Neubrandenburg eröffnete und an den folgenden vier Tagen mit der nötigen Power die ungewöhnlich weltoffene Provinz attackieren wird. Alles in allem: Ansichtssache. Roland Rust

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen