: 200x„fuck“, 150x„bitch“
Sex, Rap und Rock'n'Roll bedrohen die amerikanischen Werte. Der „Kulturkampf“, der sie neu definieren soll, führt zu den merkwürdigsten Koalitionen ■ Von Andrea Böhm
Fragt man Lon Mabon im Jahre 1993 nach der Befindlichkeit seines Landes, antwortet er: „Krieg.“ Das klingt ein wenig übertrieben, denn trotz internationalem Aktivismus führen die USA zur Zeit nirgendwo offen Krieg. Mabon hat auch gar nicht den Irak, Bosnien oder Somalia im Sinn, sondern Portland, Oregon, Aspen, Colorado oder Queens, New York. Lon Mabon wähnt sich in einem „Kulturkrieg“ im eigenen Land. Er selbst kommandiert dabei eine Einheit: Die „Oregon Citizen's Alliance“ (OCA). Gegner sind in diesem Fall eine Koalition aus Schwulen-und Lesbengruppen, einigen Bürgerrechtsorganisationen. Kirchengemeinden, Berufsverbände und andere Vereine verteilen sich je nach politischer Mehrheit oder religiöser Anschauung auf beide Seiten.
Auf den ersten Blick hat Mabons Mission wenig mit Kultur, aber umso mehr mit Krieg zu tun. Die Fraktionen bedrohen sich gegenseitig durch anonyme Telefonanrufe, verpassen Autos mit feindlichen Aufklebern einen Tritt in die Karosserie oder einen Stein in die Frontscheibe; sie beschmieren Kirchen, deren Pfarrer die Gegenseite unterstützen. Die Polizei in Oregon hat in den letzten Monaten einen rapiden Anstieg bei Delikten wie Nötigung, Sachbeschädigung, Körperverletzung und Vandalismus festgestellt – seit Mabons OCA ihre Absicht kundgetan hat, der Verfassung des Bundesstaates einen Absatz hinzuzufügen, daß Homosexualität „abnorm, falsch, unnatürlich und pervers“ sei. Ein entsprechendes Referendum, genannt „Measure 9“, fand zwar am 3.November keine Mehrheit, aber die OCA wird es bei den nächsten Wahlen wieder versuchen – mit etwas moderateren Formulierungen.
„Wir sind die ersten Truppen in einem Kulturkrieg“, sagt Mabon. „Diese Runde wird auf dem politischen Schlachtfeld ausgetragen.“ Das ist keineswegs die Macho- Diktion eines verrückten Einzelgängers. In den USA pflegen Politiker, Prediger und Propagandisten aller Art eine Vorliebe für martialische Rhetorik – als ob das Ende des heiligen Kalten Krieges Entzugserscheinungen ausgelöst hätte und sich kein Rädchen mehr drehte, wenn den Bürgern nicht irgendeine Ersatzfront geboten wird. Folglich wird in inflationärem Ausmaß mobilisiert: Zur Zeit herrscht Krieg gegen Drogen und Rezession, gegen Krebs, Aids, das Ozonloch und Toyota, gegen die Bauernlobby in der EG, gegen Raucher am Arbeitsplatz, die Mafia und Cholesterol. Und eben der Kulturkrieg – nicht gegen, sondern um die Kultur.
Kampf um den Mainstream
An diesem Punkt mag eine Begriffsklärung nützlich sein. Der US-amerikanische „culture war“ dreht sich nicht nur um den herkömmlichen Kulturbetrieb und die zu ausschweifenden Monologen einladende Frage: Was darf Kunst – und was nicht? Vom Streit um Robert Mapplethorpes Fotografien, Martin Scorseses Jesus-Verfilmung „The Last Temptations Of Christ“ oder um die Rap-Songs von 2Live Crew hat Lon Mabon vermutlich nie gehört. Im Kulturkrieg geht es für ihn um die Frage, „in welche Richtung das Land geht“. Dies dürfte der einzige Punkt sein, worin sich Mabon und Peggy Norman, Organisatorin der Kampagne gegen „Measure9“ einig sind. „Das ist eine Auseinandersetzung um Weltanschauung und Lebensformen“, sagt sie, „und darum, wie wir zusammen leben wollen. Das gilt für das ganze Land, nicht nur für diesen Bundesstaat.“
An Kampffeldern herrscht kein Mangel: Abtreibung, Kindererziehung, Schulbücher, Multikulturalismus, Hollywoods Sittenverfall oder jugendgefährdende Texte in der Rap-Musik. Solche Konflikte sind in den USA immer wieder aufgetaucht, doch selten wurden sie in solcher Vielfalt, mit solcher Vehemenz und mit solcher Brutalität ausgetragen. Egal, ob es um den angeblichen Aufruf zum Polizistenmord in einem Song des Rap-Stars Ice-T geht oder um die Integration von Homosexuellen ins Militär – kaum eine Auseinandersetzung wird inzwischen ohne wechselseitige Drohanrufe, Demonstrationen oder Boykottaktionen ausgetragen. Militanz und Haß treten dort am stärksten zu Tage, wo der momentan zentrale Streitpunkt in diesem Kulturkrieg zur Disposition steht: Das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern und die Definition der Familie. Letzteres erklärt, warum es bei so vielen „Kriegsschauplätzen“ um die Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben geht.
Die Eskalation der Konfliktformen geht in aller Regel auf die konservative, politisch rechts stehende Seite zurück – auch wenn man mit diesen Standortbestimmungen in der US-amerikanischen Diskussion sehr vorsichtig sein muß. Wer mit Schaudern „die Rechte“ auf dem Vormarsch und – wie weiland John Wayne und die Kavallerie – in den amerikanischen Mainstream einreiten sieht, der irrt, unterschätzt sowohl den Mainstream als auch die Gegenseite – mit dem Etikett „Linke“ wiederum nur sehr unzureichend beschrieben. Der Kulturkrieg ist nicht Synonym für einen „backlash“ christlicher Fundamentalisten gegen Errungenschaften der Frauen- und Schwulenbewegung. Statt dessen kämpfen beide Seiten um eine Neudefinition des „american mainstream“, der amerikanischen Identität. Ende offen.
Einige zentrale Stützpfeiler dieser nationalen Identität sind in den letzten zehn Jahren zerbröselt oder zusammengekracht: Erstens ist die liebgewordene Bedrohung durch den Kommunismus qua Auflösung der zweiten Supermacht verschwunden – was unter anderem das Ende der Ära der Kriegs-und Spionagefilme in Hollywood bedeutete; das dürfte noch am leichtesten zu verschmerzen sein. Zweitens hat sich die Theorie des „melting pot“, des „Schmelztiegels“, in dem die Einwanderergesellschaft in einem Prozeß ständigen Umrührens zu einer Nation zusammengekocht wird, als pure Illusion erwiesen. Drittens verblaßt zunehmend die Vision vom „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ für den Einzelnen. An ihre Stelle tritt die Realität des unbegrenzten Verteilungskampfes.
Folglich ist der Kulturkrieg vor allem ein Streit darüber, was „gut oder schlecht“, respektive „amerikanisch oder unamerikanisch“ ist. Das mag für deutsche Ohren beklemmend klingen, weil Konformität mit dem nationalen Reinheitsgebot hierzulande ausschließlich von der politischen Rechten attestiert wird. Nicht so in den USA: Dort nimmt die fundamentalistische „Christian Coalition“ des TV-Predigers Pat Robertson genauso in Anspruch, „wahrhaft amerikanisch“ zu sein, wie die „Gay and Lesbian Task Force“ oder die feministische „National Organization For Women“ (NOW); das „Parent's Music Resource Center“, eine Organisation, die gegen Obszönität in Rocktexten vorgeht, sieht sich ebenso als Hüterin amerikanischer Werte wie Nikki Sixx von der Heavy-Metal- Band „Mötley Crüe“, der solchen Kritikern ganz im Jargon der eigenen Songtexte entgegnet: „Fickt Euch selber. Wir nehmen uns unser Recht auf Redefreiheit. Steht im ersten Zusatz zur Verfassung.“
Murphy Brown kriegt ein Kind
Daß sich der Kulturkrieg in diesem Jahr verstärkt auf politischer Ebene abgespielt hat, hat nichts mit der Bedeutung von Politik im amerikanischen Alltag zu tun. Die wird deutlich von Religion, Sport und Entertainment überschattet – was die drei letztgenannten Bereiche wiederum sehr viel politischer macht. Die Dominanz der Politik im Kulturkrieg lag 1992 schlicht und einfach am Wahlkampf und an der Strategie der Republikaner, durch eine Polarisierung kultureller Konflikte Stimmen zu fangen. Mit Ruhm bekleckerte sich in diesen Schlachten vor allem Vizepräsident Dan Quayle, der erste Politiker, dem es in der TV-Geschichte der USA gelungen ist, mit der fiktiven Hauptperson einer Fernsehserie in Dialog zu treten. Quayle hatte sich im Wahlkampf die Film- und Mythenfabrik Hollywood vorgeknöpft, der von christlich-konservativer Seite immer häufiger vorgeworfen wird, die Werte des „american mainstream“ in ihren Drehbüchern zu mißachten. Die Auseinandersetzung hatte enormen Unterhaltungswert, was dazu führte, daß die gesamte Nation Zeuge eines exemplarischen Streits um die Definition der amerikanischen Familie wurde. Quayle hatte die Produzenten der TV-Serie „Murphy Brown“ wegen fehlenden Respekts für diese heilige Institution angeprangert: Die Hauptfigur, eine Fernsehjournalistin, hatte ein uneheliches Kind geboren. Anstatt sich über die unangemessene Einmischung der Politik in die Kultur zu beschweren, reagierten die Drehbuchautoren auf ihre Weise: Sie legten in der nächsten Folge Murphy Brown eine Standpauke an den Vizepräsidenten in den Mund, in der sie sich gegen die Diskriminierung alleinerziehender Mütter verwahrte und auf den Umstand verwies, daß auch der Familienbegriff zeitlichen Wandlungen unterworfen ist. Was im übrigen empirisch zu belegen ist: Nach Angaben des „Census Bureau“, zuständig für Volkszählung und Bevölkerungsentwicklung, findet man nur noch in einem Viertel aller amerikanischen Haushalte den Typ Familie, den Dan Quayle für so unverzichtbar hält: Vater, Mutter, Kind(er) – die beiden ersteren verheiratet.
Wie alle Kriege ist auch der „Kulturkrieg“ profitträchtig – nicht nur im Fall „Murphy Brown“, der der Fernsehgesellschaft CBS Rekordeinschaltquoten und entsprechend hohe Werbeeinnahmen einbrachte. Längst ist auch die religiöse Rechte im Medienmarkt eingestiegen: Organisationen der evangelischen Fundamentalisten unterhalten inzwischen in den USA 1.300 Radiostationen, über 200 lokale Fernsehstationen, sowie drei überregionale Fernsehgesellschaften und 80 Buchverlage, die jährlich Milliardenumsätze verzeichnen.
Der moralisch so verwerflichen Gegenseite in der Popkultur liefert das wiederum Stoff für eigene Produktionen. Die Rockgruppe Genesis, bislang nicht gerade die Avantgarde bei politisch aussagekräftigen Texten, hat mit „Jesus He Knows Me“ einen Kassenschlager produziert. Text und Video sind eine Persiflage auf die Predigten und das Geschäftsgebaren der amerikanischen TV-Evangelisten.
Von der Kommerzialisierung einmal abgesehen, verläuft der „Kulturkrieg“ in der Musikbranche um einiges schärfer als im TV- und Kino-Bereich. Hier ist der Stil der Konfrontation 1989 vorgeprägt worden, als die Polizei im Bundesstaat Florida Luther Cambell, Sanger der Rap-Gruppe „2Live Crew“, festnahm. Cambell hatte in einem Nachtclub Songs aus seinem Album „As Nasty As They Wanna Be“ präsentiert und damit gegen eine gerichtliche Anordnung verstoßen, die die Verbreitung der Texte verbot; die Richter nannten Cambell darin einen „psychologischen Kinderschänder“. Mit der typisch amerikanischen Obsession für Statistiken hatten konservative Gruppen folgende Zahlen vor Gericht aktenkundig gemacht: In dem Album wird über 200 Mal das Wort „fuck“ gebraucht, über 100 Mal werden explizit weibliche und männliche Geschlechtsteile benannt, über 80 Mal wird oraler Sex bildhaft beschrieben, das Wort „bitch“ (Hure) kommt 150 Mal vor.
Ein klassisches Beispiel für den „Kulturkrieg“ und dessen politische Bedeutung ist der Konflikt um das Album „Body Count“ des schwarzen Rap-Stars Ice-T, das bei Time-Warner erschienen ist. In dem Song „Cop Killer“ heißt es: „Ich hab' mir meine 12-Kaliber abgesägt... Ich werde heute noch ein paar Cops wegpusten...“. Gegen das Album mobilisierten Polizeigewerkschaften, Zeitungskommentatoren, konservative Politiker und schließlich auch eine Gruppe von Time-Warner Aktionären unter Führung des Schauspielers Charlton Heston. Es blieb nicht bei Demonstrationen vor Plattenläden und dem Firmengebäude. Man drohte mit Boykott, Vorstandsmitglieder von Time- Warner, die sich anfangs mit Pathos auf die US-Verfassung und
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das darin verankerte Grundrecht auf Meinungs- und Ausdrucksfreiheit berufen hatten, erhielten anonyme Drohanrufe – und wurden immer kleinlauter. Schließlich, so die offizielle Version, erklärte sich Ice-T freiwillig bereit, den Song zurückzuziehen. „Body Count“ ist in den USA seitdem nur noch ohne „Cop Killer“ zu erwerben.
Ice-T versus Polizeigewerkschaft und Charlton Heston – hier prallten zwei völlig entgegengesetzte und politisch motivierte Interpretationen von Rap-Musik durch Weiße und Schwarze aufeinander. Für letztere steht Rap in der afroamerikanischen Tradition mündlicher Geschichtsüberlieferung. Ice-T sei in seinen Songs nicht gewalttätiger als Richard Wagner in seinen Opern, sagt Quincy Jones. „Rap-Musik ist schwarzes Drama, schwarzes Theater.“
Für viele Weiße war „Cop Killer“ platte Anleitung zum Aufruhr. Dahinter steckt zum einen immanenter Rassismus: Schwarzen wird schlicht die Fähigkeit zu künstlerischer Abstraktion abgesprochen. Zum anderen war die politische Nervosität deutlich spürbar: Die Debatte begann kurz nach der Revolte von Los Angeles (der bekanntlich der Freispruch für vier weiße Polizisten vorausgegangen war, die einen schwarzen Autofahrer halbtot geprügelt hatten). Darf der reale Haß vieler schwarzer Jugendlicher Thema eines populären Songs werden? Diese Frage lag dem Streit um „Cop Killer“ zugrunde.
Wenn es, wie der amerikanische Soziologe James Davison Hunter schreibt, in einem Kulturkrieg um die Macht geht, Realität zu definieren, dann war der Fall „Cop Killer“ ein Paradebeispiel für diesen Machtkampf.
Outlaw-Images
Nun transportieren Rap-Stars wie Ice-T mit ihrem Underdog-Image außer der Ghettowut noch ganz andere Inhalte: Machismo, Sexismus und Schwulenhaß, Rassismus und häufig auch Antisemitismus. Das charakterisiert keineswegs alle Rap-Gruppen. Aber es sind die Stars und Großverdiener der Szene wie Ice-T, Ice Cube, Tone Loc oder auch Public Enemy, die den Protest und Unmut von Feministinnen und Bürgerrechtsorganisationen auf sich ziehen.
Eine Kostprobe liefert die „Anti-Defamation League“ (ADL), eine jüdische Bürgerrechtsgruppe, in ihrem Report über „hate lyrics“ aus Ice Cubes Album „Death Certificate“. In dem Song „Black Korea“ heißt es an die Adresse koreanischer Geschäftsbesitzer: „Lauft mir in Euren Läden nicht hinterher/sonst wird Euer Chop Suey Arsch zur Zielscheibe/Zeigt der schwarzen Faust Respekt/sonst bleibt von Eurem Laden nur noch Asche übrig“. An die Adresse jüdischer Musikproduzenten geht folgende Strophe aus dem Song „No Vaseline“: „Den Teufel wirst Du ganz einfach los/indem Du eine Kugel in seinen Tempel ballerst.“
Derartige Texte genießen ungeteilte Popularität unter schwarzen wie weißen Fans. Das Outlaw- Image der schwarzen Rapper, so argumentiert Richard Goldstein, leitender Redakteur der New Yorker Village Voice, wird funktionalisiert: „Für viele weiße Kids sind die Rapper jene Sex-Outlaws, die sie selbst gerne wären, um mal so richtig gegen Frauen und Schwule all das rauslassen zu können, was sie in ihrer bürgerlichen Gesellschaft runterschlucken müssen. Schwarze Antisemiten leben die Intoleranz aus, die viele andere Amerikaner nicht auszudrücken wagen. Aber ihr Auftauchen sagt einiges über die gesamte amerikanische Kultur aus.“
Rassistische und schwulenfeindliche Texte liefern auch Guns N'Roses, die absoluten Großverdiener in der (weißen) Rockszene: „Einwanderer und Tunten... kommen in unser Land und bilden sich ein/sie könnten sich benehmen, wie es ihnen paßt/Zum Beispiel hier einen Mini-Iran aufziehen oder irgendeine abgefuckte Seuche verbreiten.“
Nun teilen Musiker wie Ice Cube oder Axl Rose ironischerweise ihre Homophobie, ihren Fremdenhaß und ihre Frauenverachtung just mit jenen religiös- konservativen Gruppen (wie etwa der „Christian Coalition“ des Fernsehpredigers Pat Robertson), die ihre Schallplatten und CDs am liebsten aus allen Läden verbannen würden. Die ADL hat hingegen keineswegs Zensur im Sinn. Man will die Texte öffentlich debattieren – und die Musiker mit dem Vorwurf konfrontieren, Haß zu stiften.
Die Diskussion hat inzwischen auch innerhalb der Musikszene begonnen. Im November letzten Jahres erklärte die Fachzeitschrift Billboard in einem ungewöhnlichen Leitartikel, daß Ice Cubes „unverfrorene Parteinahme für Gewalt gegen Koreaner, Juden und andere Weiße die Linie überschreitet, die Kunst von der Befürwortung krimineller Handlungen trennt.“
Heather hat zwei Mammies
Trotz scheinbar verwirrender Fronten und Koalitionen gibt es in diesem „Kulturkrieg“ zwei Etiketten, mit denen sich die Kontrahenten grob identifizieren lassen. James Davison Hunter spricht in seinem Buch „Culture Wars – The Struggle To Define America“ vom Kampf zwischen Orthodoxen und Progressivisten. Erstere sind getragen von dem Glauben an eine höhere, nicht zu hinterfragende moralische Autorität; letztere von dem Gedanken, daß eben diese Autorität sich durch gesellschaftliche, politische und kulturelle Auseinandersetzungen ständig verändert.
Das führt wiederum vor allem auf Seiten der Orthodoxen zu Koalitionen, die vor ein paar Jahrzehnten undenkbar gewesen wären: Die traditionelle Feindschaft zwischen Protestanten, Katholiken und Juden in den USA ist heute an vielen Orten einer Kooperation der konservativen Flügel aller drei Konfessionen gewichen. 1986 schloß sich in New York die römisch-katholische Kirche mit orthodoxen Juden und konservativen Protestanten zusammen, um gegen ein Gesetz zur Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben zu protestieren.
Dieser Tage wehrt sich ein ähnlicher Zusammenschluß im New Yorker Stadtteil Queens gegen den neuen Lehrplan des lokalen Schulausschusses. Der sieht vor, die Gleichberechtigung nichtehelicher und homosexueller Lebensgemeinschaften, Aids-Prävention und den Umgang mit Kondomen zu lehren. „Heather Has Two Mammies“, dieses Schulbuch über ein Mädchen, das von seiner lesbischen Mutter und deren Freundin großgezogen wird, ist zum Synonym für den Kampf zwischen Orthodoxen und Progressivisten im Streit um Kindererziehung und Schule. Der wird nicht nur in Queens, sondern in Schulbezirken im ganzen Land ausgetragen.
Ob Heather nun im amerikanischen Schulunterricht zwei Mütter haben darf oder nicht, hängt letztlich davon ab, welche Seite mehr politische Lobbies mobilisieren, größere Boykotts organisieren kann und – mehr Geld hat. Es ist nicht unbedingt die hohe Kunst des Diskurses, mit der hier entschieden wird, wer Realität definieren darf. Aber das ist ziemlich amerikanisch.
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