: „Irgendwie ist er einer von uns“
Palermo nach der Verhaftung des Super-Mafiabosses Salvatore Riina: zwischen Erleichterung, Ungläubigkeit und Resignation ■ Aus Palermo Werner Raith
Der Tankwart vor der „Rotonda“, dem Rondell an der Viale della Regionae siciliana, hat neuerdings eine neue Art der Begrüßung entwickelt: „Benzina?“ fragt er kurz, und nur wer nickt, kann sich weiterer Kommunikation erfreuen. Jeglicher Versuch à la „Ich wollte Sie etwas fragen...“ aber, provoziert unweigerlich ein herzliches „Vaffanculo“, Leckmichamarsch.
Zu verstehen ist das schon: auf „mehrere Tausend“ schätzt der ambulante Sockenverkäufer gegenüber, etwas freundlicher gestimmt und wohl zu Übertreibungen neigend, die Zahl der Reporter, die mittlerweile nachgefragt haben, ob man denn nichts, wirklich gar nichts bemerkt habe von der Verhaftung, die seit Freitag morgen ganz Italien aus dem Häuschen gebracht hat – nein, niemand hat etwas bemerkt. Die übliche Verschwiegenheit, selbst dem nun ins Kittchen gewanderten Superboß Salvatore „Toto“ Riina gegenüber, oder wirklich die tausendprozentig gelungene Überraschungaktion der Carabinieri?
Fest steht: Der wegen weit mehr als hundert, möglicherweise sogar zweihundert Morden oder Mordbefehlen angeschuldigte mutmaßliche Chef aller sizilianischen „Cosa nostra“-Clans wurde ohne Schießerei und ohne Widerstand in Sekundenschnelle mitten während des brüllend dichten Freitagmorgenverkehrs aus seinem Auto geholt und ins Polizeipräsidium verfrachtet. Doch nun nährt genau diese Präzision böse Verdächte: derlei war bislang noch nie gelungen, nicht einmal gegen kleine Kirchenlichter. Und daß sich die Aktion im vollsten Verkehrstrubel abgespielt hat, scheint darauf hinzudeuten, daß die Fahnder genau wußten, ihr Mann würde sich ergeben und auch sein Beifahrer trage keine Waffen bei sich.
Hätte der Chauffeur bei der zunächst vorgenommenen Ausweiskontrolle eine Waffe gezogen – ein Blutbad unter den zufällig vorbeifahrenden Menschen wäre unvermeidbar gewesen. „Der hat sich mit denen abgesprochen, darauf setze ich meinen Kopf“, sagt der Portier vom Hotel „Archirafi“. Und in der Bar der Marchese am Corso dei mille – wo sich seit jeher sowohl die „Picciotti“, junge Mafia-Aspiranten mit ihren „Padrini“ treffen – machen die versammelten Männer nur eine einzige Bewegung: sie wackeln mit der linken Hand, deren Daumen und Zeigefinger rechtwinklig abgespreizt und deren restliche drei Finger zum Ballen geklemmt sind: Zeichen dafür, daß da einiges nicht stimmen kann.
„... warum sich niemand wirklich freut“
Palermo nach dem „schönsten Tag in der neueren Geschichte der ,Benemerita‘“, wie Carabinieri-Chef General Viesti seine Leute mit dem altertümlichen Namen der „Hochverdienten“ lobt: Viele Passanten zeigen zumindest uns Journalisten gegenüber Erleichterung und Beifall für die „längst fällige Verhaftung“ des seit 23 Jahren untergetauchten Mafia-Oberhauptes. Der galt als unfangbar und war bereits zum Mythos geworden.
Dagegen äußern sich viele andere Menschen, die man schon von früher her kennt und deren Vertrauen man genießt, um einiges differenzierter. „Sie müssen sich nur mal überlegen“, sagt Frau Terranova, Witwe des vor 14 Jahren ermordeten Untersuchungsrichters Cesare Terranova, „wieso nun, trotz dieses zweifellosen Fahndungserfolges, niemand die Version der Polizei über den Hergang der Verhaftung glaubt, und schon sehen Sie, daß sich niemand wirklich freut.“ Frau Costa, ebenfalls Witwe eines Mafia-Opfers (ihr Mann war Generalstaatsanwalt), und 1982 zusammen mit Frau Terranova Begründerin der „Sizilianischen Frauen gegen die Mafia“, mutmaßt, daß „da wieder mal einer zum Abschuß freigegeben wurde, der den wirklichen Hintermännern nichts mehr nützt“.
Und angesichts des speziell in Rom geäußerten Enthusiasmus über den Erfolg geht schon mancher auch nichtmafioser Sizilianer auf Abstand. „Irgendwie war er ja einer von uns“, sagt der Bar-Mann vom „Zizzi“ in der Via Lincoln, „und nun werden sie uns wieder alle mit ihm identifizieren.“
Fast scheint es, als seien die italienischen Politiker und Behörden wieder einmal dabei, ihren weltweit beachteten Fahndungserfolg durch allerlei Geheimniskrämerei zu verspielen. Bei allem Verständnis für den Schutz möglicher Informanten – warum nur mußte der Innenminister mittlerweile gleich drei verschiedene Versionen über die Hintergründe der Verhaftung verbreiten? Und warum mußte er die Aktion geradezu zum gefundenen Fressen für Satiriker machen, als er auf die Frage, warum man den Mann nicht früher erwischt hat, antwortete: „Ja wissen Sie, manchmal ist er einfach nicht aus seiner Wohnung herausgegangen, manchmal war er nicht zu erreichen, und manchmal war er auch einfach nicht zu erkennen.“ Kommentar der Jux-Sendung „Striscia la notizia“ in „Canale 5“, die die törichten Sätze gleich elfmal übertrug: „Riina war eben mit allen Wassern gewaschen: der hat die Carabinieri vollendet getäuscht, indem er täglich den Namen an seiner Wohnungstür änderte.“ Das sowieso schon reiche Repertoire an Carabinieri-Witzen wird dadurch wohl um eine weitere Glanzschildbürgerei bereichert.
Wo handfeste Fakten fehlen oder mangelhaft durchsickern, blüht natürlich die Spekulation – und die Mythenbildung. So streuen hintergründig lächelnde Beamte die Mär, man habe den Mann bewußt gerade an dieser Stelle verhaftet: da sind es nur 500 Meter zur Wohnung des im Mai ermordeten ehemaligen Chefermittlers Giovanni Falcone. Davor steht der mittlerweile zum Symbol für das „ehrliche“ Palermo gewordenen Magnolienfeigenbaum mit hunderten angehefteter Zettel („Giovanni, wir machen weiter“, und auch schon „Heiliger Giovanni Falcone, hilf uns“). Auch das Datum scheint vielen symbolträchtig: der Tag vor der in Italien immer feierlich begangenen „Eröffnung des neuen Gerichtsjahres“, wo sich in Palermo alle Notablen von Staat und Justiz versammeln. Nein nein, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter des ebenfalls Mitte 1992 ermordeten Falcone-Nachfolgers Paolo Borsellino: das Datum habe man gewählt, weil es der Vorabend des 53. Geburtstages Borsellinos ist.
Auch über die Bedeutung und die Folgen der Verhaftung sind Experten wie Bürger uneins; wer sich vor den Eingang des Justizpalastes stellte, wo der neue Generalstaatsanwalt eingeführt wurde, konnte nahezu alles und sein Gegenteil hören, und der Schlagabtausch geht über die Presse weiter. Pino Arlacchi, einer der bekanntesten Mafiologen Italiens, zieht aus der unblutigen Verhaftung den Schluß, daß es „diesmal den Behörden gelungen ist, den Mann wegzunehmen, ehe er von seinen eigenen Nachrückern umgebracht wurde“.
Das deutet darauf hin, daß die „Mafia-Elite derzeit nicht hinreichend kompakt und stark genug ist, so wie früher ihre alten Bosse einfach zu liquidieren“. Innenminister Mancino – unbeirrt von seinen Lapsi – kündigt bereits die baldige Festnahme weiterer großer Fische an, etwa des blutrünstigen Chefs der Clans aus dem ostsizilischen Catania, Nitto Santapaola.
Der ehemalige Chefermittler Antonino Caponetto, der seinerzeit den „Antimafia-Pool“ mit dem Untersuchungsrichter Giovanni Falcone an der Spitze aufbaute, meint, daß „es diesmal wirklich einfach durch den massiven Druck des Staates eng wurde für die Mafia-Chefs“ und daß „dies tatsächlich der Anfang vom Ende der Mafia sein könnte – auch wenn da noch Jahre Arbeit zu tun sind“. Luciano Violante, Vorsitzender der Antimafia-Kommission, sieht ebenfalls „erst einen bescheidenen Anfang“: „Jetzt möchte ich wissen, wer den Mann in den 23 Jahren gedeckt hat, die Riina unbehelligt in Palermo im Untergrund verleben konnte.“
Genau an der Stelle könnte es wieder einmal kritisch werden: sollte sich Riina entschließen auszusagen und sich damit die unseligen Kronzeugen-Rabatte einhandeln (er wäre dann nach vier oder fünf Jahren frei, trotz der zahlreichen Mordanklagen), wäre nach Überzeugung aller Experten ein „derartiges politisches Erdbeben fällig, daß es wohl unser ganzes politisches System nicht überstehen würde“, so der ehemalige palermitanische Bürgermeister Leoluca Orlando.
Möglicherweise haben sich die Behörden mit dem lebendig gefangenen Rinna tatsächlich eine gar nicht lösbare Hypothek eingehandelt: „Sagt Riina nicht aus“, meint Carmine Mancuso, Abgeordneter der Parlamentsgruppe „la Rete“ und Sohn eines ermordeten Polizisten, „bleiben die Spekulationen über all jene, die ihn gedeckt haben könnten. Sagt er aus und zwar wahrheitsgemäß, werden nahezu alle Institutionen – von den Regierungen über die Geheimdienste bis zu den Polizeispitzen und den Gerichten der letzten beiden Jahrzehnte – heillos kompromittiert. Sucht er aber seine Hinterleute zu schützen, wird ihm – und auch den urteilenden Gerichten – niemand mehr glauben.“
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