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„Ein Schutz, auf den jeder Mensch Anrecht hat“

Mit seiner Deportationspolitik begeht Israel einen schweren Verstoß gegen internationales Recht/ Trotz aller einschlägiger Resolutionen erweist sich die UNO aber als unfähig, die Rechte der Palästinenser zu schützen  ■ Von Felicia Langer

Als Israel sich 1949 um Aufnahme in die UNO bewarb, betonten seine Gründer, der neue Staat werde sich strikt an die Bestimmungen der UN-Charta und deren kodifizierte Prinzipien halten, die für jeden Mitgliedsstaat bindend sind. Aber als Besatzungsmacht palästinensischer Territorien hat Israel immer wieder ostentativ internationales Recht verletzt. Die UN-Charta wurde sowenig respektiert wie eine Vielzahl internationaler Normen und Resolutionen.

Eine militärische Besetzung fällt in jedem Falle in den Geltungsbereich des internationalen Rechts. Das heißt in unserem Falle, daß die Maßnahmen der israelischen Armee in den besetzten Gebieten mit den Normen des internationalen Rechts konform gehen müssen. Diese Normen wurden durch eine Reihe von Abkommen präzisiert, die vor allem unter dem Eindruck des unsäglichen Leidens der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg konzipiert wurden. Mit ihrem Schutz in Kriegszeiten befaßt sich vor allem das IV. Genfer Abkommen vom 12.August 1949, bekannter unter dem Namen „Genfer Konvention“.

Das IV. Genfer Abkommen definiert „essentielle Regeln für diesen Schutz, auf den jeder Mensch ein Anrecht hat“. Wie weitgehend dieser Schutz verstanden wird, betont Artikel 27: „Die geschützten Personen haben unter allen Umständen Anspruch auf Achtung ihrer Person, ihrer Ehre, ihren religiösen Überzeugungen und Gepflogenheiten, ihrer Sitten und Gebräuche. Sie werden jederzeit mit Menschlichkeit behandelt und insbesondere vor Gewalttätigkeiten oder Einschüchterungen, vor Beleidigungen und der öffentlichen Neugier geschützt...“

Grundlegende Artikel dieser Konvention sprechen absolute Verbote für die Besatzungsmacht aus. Sie darf die grundlegenden Menschenrechte der zu schützenden Personen nicht verletzen. So verbieten etwa die Artikel 31, 32, 33, 39, 49 und 53 die Erpressung von Informationen durch Anwendung physischen und moralischen Zwangs, ebenso Folterungen, Tötungen und jedwede Brutalität. Sie verbieten Einzel- oder Massendeportationen, die Ansiedlung der eigenen Bevölkerung in besetzten Gebieten und jede Zerstörung realen und persönlichen Eigentums.

Auch Artikel 47 befaßt sich mit der Unverletzlichkeit der Rechte der geschützten Personen in besetzten Gebieten, „...denen in keinem Falle und auf keine Weise die Vorteile des vorliegenden Abkommens entzogen (werden dürfen), weder wegen irgendeiner Veränderung, die sich aus der Tatsache der Besetzung, bei den Einrichtungen oder der Regierung des fraglichen Gebietes ergibt, ...noch auf Grund der Einverleibung des ganzen besetzten Gebietes oder eines Teils davon durch die Besatzungsmacht.“ Daß Bestimmungen wie diese in eine internationale Konvention aufgenommen wurden, verleiht ihnen den Charakter rechtlicher Verbindlichkeit.

Die israelischen Behörden behaupten, diese Konvention sei nur anwendbar, wo durch die Besetzung eine legitime souveräne Macht vertrieben wurde. Dies treffe auf das Haschemitische Königreich Jordanien in der Westbank und auf Ägypten im Gaza- Streifen nicht zu. Im selben Atemzug erklären sie sich aber bereit, in Übereinstimmung mit den humanitären Bestimmungen der Konvention zu handeln. Dennoch hat das Oberste Gericht Israels (HCI) bei der Bewertung von Maßnahmen der israelischen Militär- und Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten einige Urteile gefällt, in denen es die Möglichkeit ausschloß, daß die IV. Genfer Konvention hier überhaupt anwendbar sei. Der HCI befand indes, daß das Haager Abkommen von 1907 auf die 1967 besetzten Gebiete schon eher zuträfe, weil es internationales Gewohnheitsrecht widerspiegele, das man als Teil des israelischen Rechts begreifen könne.

Juristischer Eiertanz

Die entscheidenden Artikel der Genfer Konvention sollen aus „Souveränitätsgründen“ also nicht zutreffen, die humanitären aber schon, im konkreten Falle aber doch nicht, statt dessen das Haager Abkommen – kurz: ein juristischer Eiertanz. Doch auch das Haager Abkommen, dem sich Israel verpflichtet fühlt, definiert in seinem Artikel 42 klar, was Besatzung ist. „Wenn Israel nach dem Haager Abkommen als Besatzungsmacht angesehen wird“, so ein israelischer Rechtsgelehrter, „dann ist es gewiß auch eine Besatzungsmacht nach den Bestimmungen der Genfer Konvention.“ Nirgendwo wird die Legitimität früherer Souveränität über ein Gebiet im Falle seiner Besetzung als Kriterium für die Anwendbarkeit der Genfer Konvention genannt, deren Bestimmungen ja „personal“ und nicht „territorial“ orientiert sind. Hinzu kommt, daß Israel nach Artikel 43 des Haager Abkommens die IV. Genfer Konvention dennoch respektieren müßte, weil sie zur Zeit der Besetzung der Westbank gemäß Art.33 der jordanischen Verfassung Bestandteil des dortigen Kommunalrechts war. Auch ist es unmöglich, ein Entweder-Oder zwischen Haager Abkommen und Genfer Konvention zu konstruieren, da die Genfer Konvention laut Artikel 154 das Haager Abkommen vervollständigt.

Ohnehin muß jeder Staat seine aus Verträgen resultierenden Verpflichtungen erfüllen – im Konfliktfalle muß er das lokale Recht in Einklang mit internationalem Recht bringen. Die Internationale Rechtskommission legte 1949 in Artikel 13 der „Deklaration der Rechte und Pflichten von Staaten“ fest: „Jeder Staat ist gehalten, seine aus Verträgen und anderen Quellen internationalen Rechts resultierenden Verpflichtungen in gutem Glauben nachzukommen, und er kann sich nicht auf Bestimmungen in seiner Verfassung und seinen Gesetzen berufen, wenn er seiner Pflichterfüllung nicht nachkommt.“

Wie steht es aber mit der Pflichterfüllung der Weltgemeinschaft bei der Durchsetzung der IV. Genfer Konvention gegenüber Israel? UN-Resolution 237, einstimmig verabschiedet am 14.Juni 1967, forderte Israel auf, die Sicherheit, das Wohlergehen und die Rechte der Bewohner der besetzten Gebiete der IV. Genfer Konvention entsprechend zu gewährleisten. Zahlreiche Resolutionen zu dieser Frage folgten. Resolution 499 vom 22.März 1979 bekräftigte „noch einmal, daß die IV. Genfer Konvention vom 12.August 1949 auf die von Israel seit 1967 besetzten Gebiete, inklusive Jerusalem, anzuwenden ist“. Auch 1988, 1989 und 1990 wurden Resolutionen im gleichen Sinn verabschiedet. Die Liste nicht befolgter UN-Resolutionen ist ein eindrucksvoller Beleg der merkwürdigen und dauerhaften Impotenz der UNO gegenüber Israel.

Eine der letzten einschlägigen UN-Resolutionen – Nr.681 vom 20.Dezember 1990 – verurteilt Israel wegen der Deportation von vier Palästinensern und der Mißachtung von Artikel 49 der Genfer Konvention, um noch einmal zu unterstreichen, daß Israel zu seiner Einhaltung verpflichtet sei. Premierminister Schamir sagte damals, auch diese Resolution werde wie alle anderen ähnlichen zuvor in den Archiven landen und Staub ansetzen, niemanden würde das bekümmern. Am 2.Januar 1992 wurde ein weiterer Deportationsbefehl – diesmal gegen zwölf Palästinenser – ausgestellt. Die Familien der Deportierten richteten in einer Pressekonferenz in Jerusalem einen Appell an die internationale Gemeinschaft und klagten sie an, die Menschenrechte der Palästinenser zu ignorieren.

Als Rabin ins Amt kam, annullierte er die Deportation der zwölf und verwandelte sie in Administrativhaft – nur um wenige Monate später 415 Personen auf einmal deportieren zu lassen, unter ihnen mindestens zwei der zwölf im Sommer betroffenen Personen. Angesichts dieser und anderer menschenrechtsverletzender Praktiken Israels ist es absolut gerechtfertigt, einen internationalen Schutz für die Palästinenser in den besetzten Gebieten zu fordern.

Die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg haben dazu beigetragen, daß die IV. Genfer Konvention in Artikel 49 zu Deportationen völlig unmißverständlich erklärt: „Einzel- oder Zwangsverschickungen sowie Verschleppungen von geschützten Personen aus besetztem Gebiet nach dem Gebiet der Besatzungsmacht oder dem irgendeines anderen besetzten oder unbesetzten Staates sind ohne Rücksicht auf deren Beweggrund (Hervorhebung d.A.) untersagt.“ Das gilt natürlich auch für die Beweggründe, die Israel für diese jüngste Deportation anführt. Sie sind völlig irrelevant, und ich werde darum mit keinem Wort auf sie eingehen.

„Maximum an Land“

Die Deportationspolitik begann unmittelbar nach der Besetzung von Westbank und Gaza-Streifen 1967. Seither wurden etwa 2.000 Menschen deportiert, jene Palästinenser nicht mitgerechnet, die sofort nach dem Ende der Kampfhandlungen in Massen vertrieben wurden, um uns das zu bescheren, was die verstorbene Premierministerin Golda Meir „ein Maximum an Land mit einem Minimum von Einwohnern“ nannte. Ich habe viele der Deportierten als Anwältin auf ihrem bitteren Weg ins Exil betreut. Zwischen 1969 und 1970 waren es Hunderte, die ohne Gerichtsverfahren über die Grenze getrieben wurden, bis es uns 1973/74 im Fall der Häftlinge der „Nationalen Front“ gelang, einen Entscheid des Obersten Gerichts zu erstreiten, der fortan als Präzedenzfall galt. Danach sollte keine Vertreibung erfolgen dürfen, ohne dem Deportationskandidaten vorher die Möglichkeit einzuräumen, vor einem militärischen Einspruchskomitee Widerspruch einzulegen. Anschließend sollten die Betroffenen das Recht haben, gegen den Entscheid dieses nur beratenden Komitees das Oberste Gericht anzurufen – all dies aber von ihrer Heimat aus. 1980, im Falle der Deportation der Bürgermeister von Hebron und Halhoul, Kawasme und Milhem, war das Oberste Gericht zumindest bemüht, die Fassade eines legalen Verfahrens zu wahren: Die beiden Bürgermeister konnten zur Ausschöpfung ihrer Rechtsmittel zurückkehren. Der „Prozeß“ wurde geführt – dann warf man sie erneut hinaus.

Konnten von Deportationsbefehlen Betroffene je hoffen, daß ein solches Gerichtsverfahren sie vor dem Exil bewahrt? Die Antwort ist ein klares Nein. Außer einem einzigen Richter, Haim Cohen, haben alle Richter des Obersten Gerichts Deportationsbefehle bestätigt. Sie beriefen sich dabei auf die „Defence Emergency Regulations“ der Britischen Kolonialmacht aus dem Jahre 1945. Diese unterdrückerischen Notstandsgesetze sind in der Mandatszeit von der jüdischen Gemeinschaft in Palästina auf das schärfste verurteilt und mit den Nazigesetzen verglichen worden. In jedem Fall widersprechen sie geltendem internationalem Recht.

Aber auch aus einem anderen Grunde gerät der „Prozeß“, der vor dem Militärischen Einspruchskomitee und dem Obersten Gericht geführt wird, zu einer Farce. Er stützt sich auf Geheimakten, Verdächtigungen und Denunziationen, die der israelische Geheimdienst Shin Bet präsentiert und zu denen nicht einmal der Anwalt des Beschuldigten Zugang hat. Ergebnis: Die Betroffenen können während ihres „Prozesses“ noch einige Monate länger beim Hofgang hinter Gefängnismauern Heimatluft atmen. Ich habe erlebt, daß meine Mandanten auch das noch zu schätzen wußten...

Bei der jüngsten Deportation wurden die Spielregeln drastisch verändert: die Gnade eines „Prozesses“ wurde nicht mehr gewährt. Statt dessen ein besonders grausames Vorgehen der Armee, eine noch größere Indifferenz des Gerichts, das sogar seinen eigenen Präzedenzentscheiden zuwiderhandelt. Es ist eine Art institutionalisierter Terrorakt, der Tausende von Familienmitgliedern trifft, voller „Irrtümer“, was Namen und Personen betrifft. Der sogenannte temporäre Charakter dieser Deportation – „nur für zwei Jahre“ – ist ein weiterer semantischer, orwellscher Trick; er macht die Sache nicht weniger gravierend und verbirgt auch nicht ihren Kern – nämlich eine Entwurzelung der Betroffenen, die manche mit dem Tode verglichen.

Die Weigerung der libanesischen Regierung, die jüngst Deportierten aufzunehmen, hat den reibungslosen Ablauf der hastigen Militäraktion im Dezember zwar gestört, sie aber nicht rückgängig machen können, sowenig wie die vehementen Proteste des „anderen Israel“. Er empfinde kein Mitleid für die Ausgestoßenen, sagte Rabin. Wer seine Vergangenheit kennt, hat auch kaum etwas anderes erwartet. Er war gnadenlos, als er 1948 die Bewohner von Lydda vertrieb, als er 1967 befahl, drei Dörfer im Latrungebiet zu zerstören und ihre Bewohner zu vertreiben, und gnadenlos, als er empfahl, den Palästinensern während der Intifada Arme und Beine zu brechen. Nur weil ein gewisser Druck auf ihn ausgeübt wurde, erlaubte er jetzt die Rückkehr eines Teils der Deportierten, um die internationale Aufmerksamkeit vom Kern des Problems abzulenken – von der Deportation selbst und seiner Verpflichtung, sie insgesamt rückgängig zu machen.

Der Präsident des Obersten Gerichts, das der Regierung letzte Woche einen Freibrief ausstellte, ist Meir Schamgar. Angesichts seiner Vergangenheit ist Schamgars Haltung doch einigermaßen erstaunlich. Er wurde nämlich als Mitglied der Terrororganisation Etzel zusammen mit anderen 1944 von den Engländern nach Eritrea deportiert. Ein Artikel in Ha'aretz vom 25.12.92 zitiert eine Äußerung Schamgars aus dieser Zeit: „Unsere Haft und Deportation ohne Verfahren sind der beste Beweis für die ganze Welt, daß der Staat, in dem wir lebten, ein Polizeistaat ist.“ Die Autorin, Ada Ushpis, berichtet, daß auch die jüdische Organisation Haganah die Deportation scharf verurteilte und erklärte, sie wolle niemals dulden, daß das „heilige Recht eines Juden, in seinem Heimatland zu leben“, verletzt werde. Wer auch immer in Israel dächte, so die Autorin, die Deportation der 415 Palästinenser läge im gemeinsamen Interesse Israels und der PLO, um den Friedensprozeß voranzubringen – der irre sich gründlich und vergesse die eigene Geschichte.

Artikel 147 der IV. Genfer Konvention versteht die Deportation als „schwere Verletzung“ des Abkommens, was sie mit Kriegsverbrechen gleichstellt. Die „Hohen Vertragsparteien“ werden im nachfolgenden Artikel ermahnt: niemand könne sie im Falle einer solchen Verletzung von der Verantwortung befreien. Die Unterzeichnerstaaten der IV. Genfer Konvention, darunter auch Deutschland, haben nach Artikel 1 die Pflicht, „das vorliegende Abkommen unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen“. Wenn die UNO ein Minimum an Glaubwürdigkeit retten will, muß sie aufhören, alles, was Israel und die Palästinenser betrifft, nach einem anderen Maßstab zu beurteilen, als andere Verletzungen internationalen Rechts. Jede Toleranz ist hier fatal – für den Friedensprozeß wie auch für die Zukunft Israels.

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