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SPD - wohin nach dem Ende der sozialdemokratischen Hegemonie?

■ „Entwurf eines Berichts der Kommission Parteireform“ / Von der Urwahl des Spitzenkandidaten und der Öffnung für „Seiteneinsteiger“

Nach der Wahlniederlage der Bremer SPD 1991 waren sich die Kommentatoren sehr schnell einig, daß der Absturz der SPD um 12 % im wesentlichen „hausgemachte“ Ursachen habe.

Dieser Befund ist auch von der Partei im großen und ganzen so übernommen worden. Die „Bremer“ Gründe schienen zu offensichtlich, um schon kurz nach der Wahl eine Diskussion darüber zu beginnen, ob die Ursache nicht noch tiefergehender Natur sei. Zwar reagierte man intern verärgert auf die als selbstgerecht empfundene Äußerung des SPD-Bundesgeschäftsführers Karlheinz Blessing, die Wahlniederlage der Bremer SPD sei allein ihre Angelegenheit. Dennoch akzeptierte man das Urteil „hausgemacht“, um sich nicht dem Verdacht aussetzen, von den eigenen Fehlern und Mängeln ablenken zu wollen.

Generell hinzu kamen Verschleißerscheinungen nach 40 Jahren SPD-Regierung, davon 20 Jahre mit absoluter Mehrheit, sowie eine Reihe interner Skandale und Affären.

Dennoch: Im Rahmen einer Reform- oder „Modernisierungsdiskussion“ wäre es zu kurz gegriffen, die Situation der Bremer SPD isoliert und losgelöst von der Gesamtsituation der Parteien im Bundesgebiet zu sehen. (...)

Diese Entwicklung (ist) schon seit längerem erkennbar. Neu ist nur die Wucht der öffentlichen Diskussion hierüber. Die Unzufriedenheit der Bürger mit den Parteien korrespondiert mit einer zunehmenden Wahlenthaltung. Das Ansehen der Politiker verfällt zunehmend. (...)

Die Unzufriedenheit über die mangelnde Fähigkeit der Parteien, die aktuellen Probleme zu bewältigen, schlägt sich in der Debatte über zu hohe Bezüge und materielle Vorteile der Politiker, undemokratische Parteistrukturen und Bürgerferne nieder. Tatsächlich ist diese Debatte zu oberflächlich.

Die Krise des Parteiensystems muß vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels in der alten Bundesrepublik, sowie der Herausforderung der deutschen Vereinigung betrachtet werden: neue soziale Risiken und soziale Spaltung zwischen Ost und West, die Auflösung bislang sicher geglaubter Bindungen, aber auch die Veränderungen der internationalen Lage nach Überwindung des Ost- West-Gegensatzes haben zu einer tiefgreifenden sozialen, kulturellen und politischen Verunsicherung geführt. Die zunehmende Unüberschaubarkeit der gesellschaftlichen Probleme und der Verlust an Identifikationsmöglichkeiten haben ein Vakuum entstehen lassen, indem der Orientierungsbedarf steigt.

Die Krise des Parteiensystems besteht im Kern darin, daß den Parteien und den Politikern nicht zugetraut wird, die sich anhäufenden Problemkomplexe zu lösen. Weil die Parteien einerseits als wenig profiliert und nur schwach unterscheidbar wahrgenommen werden, werden die medial vermittelten politischen Kontroversen als Schaukämpfe empfunden.

Die Parteien befanden sich bis zur deutschen Vereinigung in einem Modernisierungskurs, der den gesellschaftlichen Wandel in der alten BRD reflektierte. Auf die Renaissance der „sozialen Frage“ im Zusammenhang der deutschen Einheit und der internationalen Veränderungen waren sie nicht vorbereitet. Bis heute ist es ihnen nicht gelungen, die veränderte Lage wirklich zu erfassen und vermittelbare Lösungsansätze zu formulieren. Vor allem vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum die rechtsextremen Parteien das politische Terrain so stark besetzen konnten.

In der Krise des Parteiensy

Aufbruch zur Parteierneuerung am 28.3.1992: Horst Isola, der Gewinner der Wahl zum Landesvorsitzenden, wird von Klaus Wedemeier beglückwünscht. Rechts Wahlverlierer Konrad Kunick.

stems verzahnen sich verschiedene Probleme. Eine Parteireform, die dies nicht verarbeitet und sich auf organisationspolitische Maßnahmen beschränkt, muß scheitern.

Strukturelle Gründe der

Wählerverluste für die SPD

Die SPD beeinflußt das Kommunikationsverhalten auch des ihr nahestehenden Bevölkerungsteils kaum noch, von gelegentlichen Kinderfesten, Bremen-Festen oder Grill-Abend- Angeboten abgesehen.

In klassischen SPD-Großstädten wie Frankfurt, München, Hamburg und inzwischen auch Bremen kann man von einer sozialdemokratischen Hegemonie nicht mehr sprechen. Unser Kommunikationsverhalten ist reichlich anachronistisch, wir erreichen selbst unsere Mitglieder nicht mehr, von denen bestenfalls 20 % zu den Closed- Shop-Veranstaltungen der Ortsvereine kommen.

Dies alles ist nicht etwa das Ergebnis eines Versagens der SPD, sondern eines gesellschaftlichen Wandels, nicht zuletzt gewollt und gefördert auch von einer sozialdemokratischen Reformpolitik, insbesondere im Bereich der Bildung. Der Zug zu einer immer mehr individualistisch geprägten Gesellschaft ist nicht länger aufzuhalten und dieser gesellschaftliche Wandel spielt sich vor allem in den Großstädten ab.

Empfehlungen für eine

neue Profilierung der SPD

Aus unserer Diskussion des sozialstrukturellen Wandels in Bremen ergibt sich die grundlegende Erkenntnis, daß die SPD versuchen muß, sowohl die Interessen ihrer traditionellen Anhänger in der Arbeitnehmerschaft, den Älteren und sozial Schwachen als auch die der neuen, besser verdienenden und eher individualistischeren Arbeitnehmerschichten zu vertreten, wobei generell die besonderen Interessen der Frauen und jungen Generation stärker als bisher berücksichtigt werden müssen.

Eine Festlegung auf eine dieser beiden Gruppierungen (würde) die Akzeptanz einer Minderheitenrolle (bedeuten).

Die SPD hält fest an einer solidarischen Sozialpolitik, die nach

hier das foto von

den drei Männern

Kräften die wachsenden Risiken der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung abzusichern versucht. Die Finanzierung einer solchen solidarischen Sozialpolitik kann allerdings nicht allein den bisherigen Beitragszahlern aus der Arbeitnehmerschaft aufgebührdet werden, sondern auch die Besserverdienenden müssen dazu herangezogen werden.

(Alternativ-Formulierung, von Kommission Parteireform nicht übernommen:

Um wieder mehrheitsfähig zu werden, braucht die SPD (zumindest die bremische) ein verändertes sozialpolitisches Profil, welches in seiner Konzeption nicht nur Sozialhilfeempfänger und Dauerarbeitslose anspricht, sondern auch die Interessenlage und Sichtweisen der Beitragszahler im Auge hat, und dies deutlich macht! Denn sie sind es, die Sozialpolitik auf Dauer erst möglich machen.

Dabei darf auch nicht übersehen werden, daß die traditionellen SPD-Wähler nicht mit dem sogenannten unteren Drittel der Gesellschaft, den Empfängern von Sozialleistungen, gleichzusetzen sind.

Der überwiegende Anteil - auch der traditionellen SPD- Wählerschaft - ist dagegen ausgesprochen stolz darauf, sein Leben aus eigener Kraft zu bestreiten und zu den Leistungs(bei)trägern der Gesellschaft zu gehören. Deren wirtschaftliche Situation hat sich im vergangenen Jahrzehnt durchweg verbessert, auch wenn (durch Medienberichterstattung und möglicherweise eigene Anschauung) die Konfrontation mit den Problemlagen in anderen Teilen der Welt und der Umwelt die Brüchigkeit der eigenen Existenz deutlich macht.

Es kann also beim „Ausbau des Sozialstaates“ nur um eine Effektivierung der Sozialpolitik gehen, die immer auch die Belastungen für die Leistenden im Blickfeld behält.)

(...)

In den 70er Jahren hat eine Verdrängung sowohl älterer Parteimitglieder und auch von Arbeitern statt. Der Ausbau der Stellen des öffentlichen Dienstes in dieser Zeit, gerade im Bildungs- und Sozialwesen, dürfte dabei eine wichtige Ursache gewesen sein. (...)

Die Bremer SPD wird weitgehend als inhaltlich und personell ausgebrannt, konzeptionslos und ohne

politisches Profil gesehen. Eine Erneuerung aus eigener Kraft wird ihr kaum zugetraut.

Die Außenwahrnehmung der SPD wird bestimmt durch inhaltliche Kritik (insb. Sparpolitik) und in ihrer Weigerung zu öffentlicher Kommunikation (Arroganz der Macht). Das Ansehen der SPD als Interessenvertretung sozialbenachteiligter Gruppen ist beschädigt. Diese Gruppenkennzeichnen die SPD als unsozial, fühlen sich nicht durchdie Partei vertreten, empfinden sich als alleingelassen und haben in ihrem Verhältnis zur SPD resigniert. (...)

Die Politikformen müssen den veränderten Bedürfnissen Rechnung tragen: statt der ausschließlichen Orientierung auf lebenslange organisatorische Bindungen müssen auch kampagneartige Ein-Punkt-Aktionen zur zeitweiligen Mitarbeit an politischen Problemen möglich werden. Außerparlamentarische Aktivitäten und die Zusammenarbeit mit Bürgerinitiativen und Bewegungen - wie es Anfang der 1980er Jahre von der SPD in der Friedensbewegung erfolgreich praktiziert worden ist- müssen wieder aufgenommen werden.

Der Politikstil der SPD muß sich angesichts der fortschreitenden Parteienverdrossenheit und der Filzdiskussion entscheidend ändern. Statt abgehobener Mandatsträger brauchen wir glaubwürdige Politikerinnen und Politiker, die sich um die tatsächlichen Sorgen und Nöte der Menschen kümmern Ein großer Teil unserer Wählerinnen und Wähler lebt keineswegs im Luxus und hat wenig Verständnis für einen Politikstil, der den Verdacht auf persönliche Vorteilsnahme durch Politiker nährt, und der sich durch Abgehobenheit und Intrigen auszeichnet. Die Mitglieder und die Funktionärinnen und Funktionäre unserer Partei müssen wieder das Gespräch mit den Menschen in Betrieben und Wohnvierteln suchen und auf sie hören. Dazu gehört die Bereitschaft zur Auseinandersetzung und zum eigenen Lernen, sowie persönliche Glaubwürdigkeit und Bescheidenheit.

Von sozialdemokratischen Politikern wird schlicht eine höhere politische Moral erwartet als von Vertretern konservativer Parteien. Die SPD muß Vorbild sein: Wer für Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Toleranz und Humanität eintritt, hat im Parteileben zu zeigen, daß er/sie solche Ansprüche fähig ist.

Vorschläge zur Parteireform

Der gegenwärtige Zustand unseres Parteiensystems wird von Konservativen, insbesondere Scheuch, vor allem auf Defizite des politischen Personals zurückgeführt.

Dieser These kann die Kommission nur bedingt zustimmen. Nach Auffassung der Kommission sind für die Parteienkrise in erster Linie fehlende überzeugende Antworten auf Sachprobleme und organisatorische Defizite verantwortlich. Eine wissenschaftliche Untersuchung des PV zeigt, daß als häufigster Grund für den Parteieintritt die Programmatik der Partei angegeben wird. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß die Wahrnehmung der Politik durch Personen erfolgt. Ein gutes Programm allein ist noch kein Medienereignis. Ein trauriges Beispiel hierfür ist das Grundsatzprogramm der SPD sowie auch das Arbeitsprogramm „Fortschritt 90“, für die sich weder die Mehrheit der Parteimitglieder und schon gar nicht die Bevölkerung interessierte. Viel spannender für die Öffentlichkeit war der monatelange Streit, wer SPD- Kanzlerkandidat werden soll.

Festzuhalten bleibt: die Programmatik ist für die Partei als eigene Richtschnur für politisches Handeln wichtig. Dennoch wird sie von den Bürgern, vor allem für ihre täglichen politischen Taten und deren gekonnter öffentlicher Präsentation gewählt.

Für die Bremer SPD hat die Personalfrage auf der Führungsebene, insbesondere im Senat, schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit und dem Zwang zu koalieren, ist es für die Partei jedoch inzwischen lebensnotwendig, auch personelles Profil zu zeigen. Mittelfristig muß die Bremer SPD personelle Alternativen und Ergänzungen aufbauen und zwar in den unterschiedlichen Kompetenzfeldern. Der Chef einer Werbeagentur: „Die Partei muß Gesicht zeigen, um wieder Gewicht zu bekommen. Nur mit engagierten Menschen kann die Glaubwürdigkeitslücke vor Ort wieder geschlossen werden. Außerdem ist Erneuerung lebendiger kommunizierbar als Restaurierung.“

Für einen künftigen Regierungsanspruch sind auch neue Köpfe mit Profil zu finden, die sich „im Bestand“ nicht gerade aufdrängen. Benötigt werden wichtige Persönlichkeitsprofile, die in der zweiten Hälfte der 90er Jahre Verantwortung übernehmen können: Seiteneinsteiger: Profilierte Köpfe auch aus Gewerkschaften, Unternehmen (sowohl Betriebsräte als auch Unternehmer selbst), Kultur, Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Gruppen, müssen für eine Mitarbeit gewonnen werden, wobei diesen aussichtsreiche Listenplätze für die Bürgerschaft auch außerhalb der Ortsvereinsentscheidungen reserviert werden sollten .

Aus diesem Grunde wird vorgeschlagen, dem Landesvorstand das Recht einzuräumen, eine begrenzte Anzahl von Plätzen auf der Bürgerschaftsliste - in Abstimmung mit den betroffenen Unterbezirksvorständen - zu besetzen. Jeder Ortsverein, der in der Bürgerschaft vertreten sein möchte, soll mindestens 2 Bewerber - quotiert - vorschlagen. Ferner sollte die Möglichkeit der Veränderung der Rangfolge der Listenplätze (panaschieren) geschaffen werden (auf Parteiebene).

Als Richtlinienempfehlung für die Mandatskommission:

Bei der Aufstellung der Kandidatenliste für die Bürgerschaft soll angestrebt werden, daß etwa 1/3 der Fraktion erneuert wird. Als ein Kriterium - neben anderen - ist dabei die Dauer der Mandatszeit zu berücksichtigen. Eine „harte“ Mandatszeitbegrenzung (z.B. definitiv nach 8 bzw. 12 Jahren) empfiehlt sich nicht. Eine Mandatszeitbegrenzung bei 8 Jahren hätte z.B. zur Folge, daß 1995 von 41 Fraktionsmitgliedern 30 (über 70 %) ausscheiden müßten.

20 % der Abgeordneten sollten unter 35 Jahre alt sein.

Der Anteil der Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst und aus Gesellschaften, die mehrheitlich von der Stadtgemeinde Bremen bzw. Bremerhaven getragen werden, ist auf 50 % zu begrenzen. (Z.Z. kommen aus diesen Bereichen lt. Handbuch der Bremischen Bürgerschaft 18 von 41 Fraktionsmitgliedern).

Der Spitzenkandidat der Bremischen Bürgerschaft soll durch Urwahl der Parteimitglieder nominiert werden. (...) Unter Zugrundelegung der These, daß sich Ortsvereine immer weniger als alleinige sinnvolle Organisationsform erweisen, scheint es geboten, neben den Ortsvereinen weitere Basisgliederugnen der Partei zu setzen.

Öffnung der Partei und Lockerung der Territorialstruktur durch Aufbau einiger zentraler inhaltlicher Projekte, in denen auch Nichtmitglieder mitarbeiten können (Umweltprojekt). Diese Projekte erhalten Antrags- und Rederecht auf dem Parteitag. So können inhaltliche Kompetenzen (etwa aus Initiativen und Wissenschaft) genutzt, Nichtmitglieder interessiert und „Aktive auf Zeit“ gewonnen werden.

Bei der Öffnung der Partei geht es nicht darum, „individuelle Karrieren“ (Begriff Seiteneinsteiger) zu fordern. Angestrebt wird vielmehr die Erneuerung der SPD als Mitglieder- und Programm-Partei. Projektorientiertes Arbeiten soll der inhaltlichen Arbeit neue Impulse geben. Die Frage nach Seiteneinsteigern muß in diesem Kontext diskutiert werden: Wo sich inhaltlich-fachlich ausgewiesene Menschen in Projekten der Partei engagieren, sollten sie auch dann Funktionen übernehmen können, wenn sie die Ochsentour nicht durchlaufen haben.

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