: Schonungslose Pinsel
Fundamentalistisch: Die 1. Realismus-Triennale im Martin-Gropius-Bau ■ Von Harald Fricke
Manchmal überhört man Warnungen allzu leicht. Als ein guter Bekannter noch im vergangenen Herbst darüber spottete, daß mit der Wiedervereinigung ein Rückfall in die siebziger Jahre nicht mehr aufzuhalten sei, waren bei dieser Vorstellung die psychedelische Afri-Cola-Werbung, lustige Schlaghosen und bunte Plateauschuhe in der Erinnerung aufgestiegen. Die Kunst schien von diesem Jux unberührt.
Doch die Hippie-Wehmut schlägt andernorts in Reaktion um: Fundamentalistische Wirklichkeitsfanatiker hetzen quer durch das gesamtdeutsche Feuilleton gegen die böse Macht der vom „wahren Leben“ abstrahierenden Medien, die ungerührt zwischen Schweinestall, Gewalt im Kinderzimmer und Müller-Milch swingen, und fordern ein gesäubertes Rechts-Bewußtsein gerade für die Ästhetik der privaten Kanäle. Und im Martin-Gropius-Bau stürmen schaue Bilder von existenzialistisch gekrümmten Leibern und verfallstechnisch stilisierten Häuserfronten die Welt der Zeichen.
Für die Freunde des Realismus hat mit dem Mauerfall auch eine neue Geschichtsschreibung der modernen Kunst eingesetzt: „Nach dem Zusammenbruch jener Systeme, die einen deformierten Realismus zur Staatsdoktrin gemacht hatten, ist es heute möglich, Realismus ideologiefrei zu betrachten“, heißt es in einer Art Grundsatzerklärung des „Künstlersonderbund in Deutschland“, in der man den eigenen Ideologierahmen bei der Wahrnehmung von Wirklichkeit dezent ausblendet. Die Wurzel des gegenwärtigen Übels soll laut Einführungstext in der allgemeinen „Entgrenzung der Kunst“ liegen, die jegliche Darstellung indifferent auflöst. Der Verein hält mit Ausgrenzung dagegen. Für wild-heftige Malerei, den phantastischen Realismus aus Österreich und die naive Kunst ist auf dem Schlachtfeld der Ästhetik kein Platz.
Während nun also im Osten die Partei-Ikonen vom Sockel gekippt wurden, versuchen die Hardliner unter den Realismus-Aktivisten Beuys und Duchamp aus den vorderen Rängen des Kulturbetriebs zu kicken, denn „die Kopfgeburten der Avantgarde bestechen selten durch brillanten Intellekt, ihnen fehlt – Beuys als Exempel – das Licht der Aufklärung“. Dieses Urteil hat Heinz Spielmann, seit 1986 Landesmuseumsdirektor des Landes Schleswig-Holstein und Direktor des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums, der 1. Realismus-Triennale zum Geleit mit auf den Weg im Kreuzzug gegen die „geistlose“ Moderne gegeben.
Was als majestätische Rechtssprechung im ehrbaren Schloß Gottorf hoch im Norden (an der Schlei) dem Kunstverständnis auf dem Lande dienen mag, kommt in der Mitte von Berlin allerdings nicht ohne wild paranoische Schuldzuweisungen aus. Ob die Nazis 1939 in München oder der Belgier Jan Hoet bei der letzten Documenta – überall meint der Realist eine Verschwörung gegen die Liebe zur Wirklichkeit erblicken zu müssen, eine Verschwörung, bei deren Verteidigung die Slogans von „Entartung“ und „Dummheit“ recht beliebig zur Dokumentation der eigenen Unterdrückung durch machtgeile Kritiker und Kuratoren herbeizitiert werden. (Um aber bei der Wirklichkeit zu bleiben: Ganz so ungeliebt sind die Realisten auch im intrigenschmiedenden Verwaltungsalltag der Hauptstadt nicht. So war die Vergabe der HdK-Professur an Volker Stelzmann gegen den Willen der StudentInnen vom akademischen Rat durchgedrückt worden).
Auch der Künstlersonderbund geht eigene interne Wege durch die Kulturpolitik. Erst im April 1990 gegründet, wurde dem Verein bereits im Sommer des gleichen Jahres eine große Werkschau in den Räumen des Martin-Gropius-Baus zugesichert. Für die finanziellen Mittel, die bei einer solchen Mammutausstellung immerhin eine sechsstellige Größenordnung ausmachen, wird der Deutschen Klassenlotterie Berlin gedankt. Einige Katalogseiten später straft man sie jedoch, verschwenderische Kunstvereine an ihrer Brust genährt zu haben — mit dem Geld des anonymen kleinen Lottospielers, „der nur an seinen Gewinn, aber niemals an die Kunst dachte, die ihm gleichgültig war“ (Helmut Börsch-Supan). Das soll nun alles anders werden: 119 Künstlerinnen und Künstler wollen diesem kleinen Lottospieler zeigen, wie es um seine Welt steht.
Natürlich kommt auch der einfache Mensch aus dem Volk nicht ohne Schelte davon. Norbert Wagenbrett hat ihm im zoologischen Garten, auf der Straße oder beim Schlachter aufgelauert. Dem „Paar im Zoo“ preßt der Maler ein dumpfes Leid aufs Gesicht und erschlägt mit schonungslosem Pinselschwung noch deren letzte menschliche Regung. Als hätten weder die Fotografien von Muybridge noch die Experimente des Films neue Erkenntnisse über die Beweglichkeit des Körpers geliefert, werden in der Ausstellung die erstarrten Haltungen aus dem vorigen Jahrhundert in unsere Neunziger Jahre herübergerettet. Almut Heise hat ihre „Christa mit dem Kofferradio“ nicht besonders genau betrachtet: Der dargestellten Armhaltung entsprechend müßte sich Christa in jenem „fruchtbaren Augenblick“, den bereits Lessing in der Malerei einforderte, die Finger brechen.
Ansonsten herrscht ein Gleichgewicht zwischen Porträts und Sachabbildungen oder Impressionen aus dem Alltag. Selbst wenn es Ulrich Huchalla in der Darstellung von „IMI, ATA, FEWA“ an Perspektive mangelt, so umhüllt die Haushaltsreiniger doch zumindest die depressive Aura des objektivierten Vergangenen. Ganz anders dagegen bricht Sarah Haffner mit ihrem „Bildnis eines Bücherregals der bürgerlichen Linken“ von 1969 die monumentale Positionierung im historischen Kontext. Der neugierige Blick, der über die Buchrücken huscht, um in Erinnerungen zu wühlen, sieht sich schon beim ersten Blick mit einer ironischen Bestandsaufnahme der Künstlerin konfrontiert. Während ganz oben, für Kinder unzugänglich, die revolutionären Schriften über Black Power und Rosa Luxemburg thronen, hat man in Fußbodennähe die bürgerliche Großkultur zusammengepfercht: Lessing, Heine und Kleist, in gebundener Ausgabe.
Mitunter fällt auf, daß der noch so aufrichtig betriebenen Vergangenheitsbewältigung die Sehnsucht nach einer friedlichen Idylle auf den großstädtischen Leib geschrieben worden ist. Konrad Knebel gibt zwar Stimmungsbilder von Oderberger Straße und Kastanienallee wieder, doch vor lauter Geschichtsträumerei hat er die Details vergessen. Die Einschüsse in den Brandmauern fehlen. Nur den klaustrophobischen Häuserreihen Stefan Hoenerlohs merkt man das Zusammenspiel von Ausdruck und Gehalt an – selbst wenn es um imaginäre Räume kreist.
In vielen Bildern tritt die bekannte Kritik an der Wohlstandsgesellschaft zum Vorschein, der man nun nicht länger die Askese der Abstrakten entgegensetzen will, sondern auf den belehrenden Effekt der angeblich reinen Spiegelung vertraut.
Dabei rutschen selbst Maler wie Johannes Grützke ziemlich rasch auf das Niveau eines plump vertraulichen „Alles-Banane?“-Humors ab, wenn es darum geht, den Blick auf die Lage der Nation zu richten. Doch ein Trabbi in Arkadien macht als Vorbote von Fremdenhaß und rechter Gewalt noch keine Gegenwartskunde aus – Volker Leder hätte lieber bei der sorgfältigen Darstellung von Wildsäuen und Windmühlen bleiben sollen. Man kann in diesem Zusammenhang ruhig den Titel ernstnehmen, den Joachim Lehrer seiner Caspar David Friedrich-Anleihe mit verfallener Tankstelle gewidmet hat: „Das Seichte und der Philosoph“. Die erkenntniskritische Durchschlagkraft der selbsternannten Realisten sollte man indes woanders vermuten, so wie sie die „nouveaux realistes“ im Nachkriegsfrankreich als Kampfmittel für eine antibürgerliche Gesellschaftsordnung genutzt haben.
Ein Großteil der Maler fühlt sich im Zynismus des unbeteiligten Beobachtens wohl. So hat Leszek M. Zegalski zum Beispiel auf „Es lebe die Kuh“ das oralverkehrende Robert-Crumb-Poster zur Revolution kolportiert, mit dessen Sexismus im Rücken bald jede Groß-WG der frühen siebziger Jahre sich konfrontiert wußte. Mehr als frauenverachtende Konsumkritik ist ihm dabei nicht eingefallen.
Während dem Stier Sabber aus dem Maulwinkel läuft, grast die Kuh auf Akkumulation bedacht in aller Seelenruhe weiter. Der daneben abgedruckte Textauszug von George Bataille über die Höhlenmalerei von Lascaux muß zwangsläufig in die Irre führen: „Was diese nichtmenschlichen Gestalten mit jugendlicher Kraft verkündigen, ist nicht die Botschaft, daß ihre Schöpfer durch ihre Tätigkeit als Maler zu vollendeten Geschöpfen geworden sind, sondern daß ihr Ausdruckswille, statt ihres eigenen Bildes, das des Tieres verewigt hat, als der stärkste Ausdruck ihres Menschentumes.“
Statt einer Rettung der Phänomene zeigen fast zwei Drittel der ausgestellten Bilder nackte Frauenfragmente – auf Bauschutt, Wald und Wiesen verteilt. Mit der Wirklichkeit haben diese Bilder nur den Wunsch gemein, das Reale – teils unter Schmerzen, teils mit Lustgewinn – möglichst rasch zu verlassen. Man sollte die Schweigsamkeit der Abstrakten gegenüber dem neuen Realismus nicht unterbewerten.
„Die 1.Realismus-Triennale", bis zum 21.März, Martin-Gropius- Bau, Stresemannstraße 110; Di-So 10-20Uhr.
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