: Etwas turbulente Tschechen
Erinnerungen an den Prager Frühling, als es noch um das Leben ging und nicht um das Überleben ■ Von György Dalos
Der Prager Frühling begann im Winter und endete im Hochsommer. Ich würde nicht behaupten, er sei im Keim erstickt worden. Acht Monate wurden ihm gelassen, weniger, als der Solidarność zur Verfügung stand, allerdings mehr als die dreizehn Tage des ungarischen Oktoberaufstandes 1956.
Ich erlebte diese acht Monate in Budapest, physisch erwachsen, jedoch politisch im Zustand einer nicht enden wollenden Pubertät. Es war mein fünfundzwanzigstes Lebensjahr, ich schwärmte für eine maoistische Variante der Weltrevolution, wurde gerichtlich verurteilt und besaß damit den einzigen Beweis dafür, daß ich recht hatte.
Dem Prager Frühling gegenüber war ich sehr argwöhnisch. Ausdrücke wie „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wirkten auf mich höchst irritierend, ebenso wie das ganze Gerede von Demokratie, Pluralismus, Selbstverwaltung und Pressefreiheit. Gleichzeitig verlief ein Reformprozeß in meinem eigenen Lande, den ich ebenso ablehnte wie den tschechoslowakischen. Reformen fand ich überhaupt langweilig, begeistern konnten mich ausschließlich spektakuläre Ereignisse wie die Studentenrebellion in Paris oder die Tet-Offensive der südvietnamesischen Befreiungsfront. Ich dachte in Haupt- und Nebenwidersprüchen, wie jeder, dem es an bestimmten Erfahrungen mangelt. Zum Glück arbeiteten die Behörden meiner Heimat bereits daran, mir einiges an Erfahrung zu vermitteln. Ich sage dies nicht aus einer etwas verspäteten Selbstkritik, sondern um meine damalige Ausgangsposition zu schildern. Trotz meiner Vorbehalte war ich neugierig auf alles, was drüben geschah. Ich kaufte jeden Tag die von der Zensur zugelassenen Zeitungen, las die Moskauer Prawda, das in der ČSSR erscheinende ungarischsprachige Blatt und schreckte nicht einmal vor der Lektüre des Neuen Deutschland zurück. Meinen spärlichen Lesestoff ergänzten die sporadisch erhältlichen Exemplare westlicher Zeitungen. Ich fühlte mich relativ gut informiert, nur paßten immer mehr Fakten immer weniger in mein Weltbild.
Der Prager Frühling verursachte nicht nur mir, sondern auch der ungarischen Gesellschaft, die ihrerseits in Aufbruchstimmung war, Kopfzerbrechen. Reformfreudige Funktionäre hofften, in Alexander Dubček einen Verbündeten gefunden und dadurch die Isolierung der ungarischen Reform innerhalb des Warschauer Paktes durchbrochen zu haben. Bald merkten sie jedoch, daß – wie sie damals sagten – „die Tschechen zu weit gegangen waren“. Bei vielen stellte sich bereits im März 1968 die Angst ein, der Zorn des mächtigen Breschnew-Klans könnte auf den ungarischen Liberalismus übergreifen. Kein Wunder: Die politische Karriere dieser Generation begann im Schatten eines Einmarsches der Roten Armee, den sie zwar befürwortet hatten, gleichzeitig jedoch als etwas Fürchterliches miterleben mußten. So entstand jene zwiespältige Mentalität, die sich als die neue ungarische Realpolitik gebärdete, der es ausschließlich darum ging, die zarten Blüten unseres Reformprozesses nicht gefährden zu lassen. Im Mai 1968 hörte ich den Vortrag eines hohen Parteifunktionärs über die aktuelle Situation. Der Mann behauptete, „wir“ seien mit den Zielsetzungen der Dubčekschen Führung einverstanden, nur seien – unter uns gesagt – „die Tschechen“ etwas turbulent mit ihrer Pressefreiheit, weniger wäre mehr. „Eigentlich müßten die Prager Genossen unsere Reform nachahmen“, sagte er wohlwollend.
Es war erlaubt, Fragen zu stellen – die damals verbreitetste Form von Glasnost in Ungarn. Jemand erkundigte sich vorsichtig beim Redner, was eigentlich der unlängst erfolgte Besuch des Genossen Kossygin (damals sowjetischer Ministerpräsident) in Karlovy Vary bedeuten sollte. „Ich weiß nicht“, entgegnete der Funktionär und fügte mit zynischem Grinsen hinzu: „Es ist weitaus besser, wenn Kossygin mit seinen Rheumabeschwerden nach Karlovy Vary reist, als wenn der General Jepischew mit seinen Panzern in Prag einmarschiert.“ Jepischew war damals Chef der politischen Verwaltung der sowjetischen Armee.
Angeblich versuchte unser Parteivorsitzender János Kádár damals, sowohl die tschechoslowakischen wie auch die sowjetischen Genossen zu beschwichtigen. Was er Breschnew vorschlug, wissen wir nicht. Dubček gegenüber jedoch äußerte er sich bei einem Geheimtreffen in Komarno – eine Woche vor der geplanten Invasion – dahingehend, es würde nicht stören, einige Leute in Prag zu verhaften, um das Vertrauen der Verbündeten zurückzugewinnen.
Als dann die tschechoslowakische Führung auf diese vertrauensbildende Maßnahme verzichtete, intervenierten unsere mißtrauischen Fünf, um die schwache Diktatur oder die starke Demokratie auszuschalten. Plötzlich stand Ungarn alleine da, als Herzschrittmacher des osteuropäischen Fortschritts, als einsamer Bahnbrecher der Reform, der bedauerlicherweise das Land seines einzigen potentiellen Gesprächspartners mitbesetzt hielt. Bei einer Informationsveranstaltung im ungarischen Schriftstellerverband am 24. August 1968 fragte jemand, ob nun die „brüderliche Hilfe“, die dem Brudervolk soeben geleistet wurde, nicht zur Folge haben könne, daß unsere eigenen Reformpläne auf ähnliche Weise endeten. „Wieso denn?“ zeigte sich der Redner erstaunt, „das Ganze haben wir nur mitgemacht, um unsere Reform besser schützen zu können.“ Vier Jahre später, im November 1972, wurde durch einen ZK-Beschluß die ungarische Wirtschaftsreform eingefroren. Unsere Verbündeten, mit denen wir zusammen einmarschierten, wollten nun unseren Sozialismus retten, indem sie massiven Druck ausübten. Das geistige Klima des Landes veränderte sich für einige Jahre: Polizeiwillkür in der Kultur, Ketzerverfolgungen in der Ideologie, die gemütliche ungarische Variation auf die Stagnation, mit Double Think auf allen Ebenen.
Sachkundige behaupten heute in aller Öffentlichkeit, daß das Land durch den ZK-Beschluß vom November 1972 fünfzehn Jahre verloren hat. Dieser Zeitverlust ist unsere Niederlage im Kampf gegen den Prager Frühling. In jenen Augusttagen habe ich einiges dazugelernt. Am 27. August ging ich zu einem Verlag, der mir Übersetzungsarbeiten versprochen hatte. Gegen Mittag hatten sich im kleinen Redaktionszimmer die Mitarbeiter um ein Radiogerät geschart, um etwas Neues aus Prag zu erfahren. Nach dem Zwölf-Uhr-Zeichen gab es eine spannungsgeladene Pause von einigen Sekunden, dann sagte eine ernsthafte Männerstimme: „Sie hören Nachrichten. Auf den Straßen von Prag wütet ein erbitterter ideologischer Kampf.“ Die Anwesenden brachen in wildes Gelächter aus. Einer schlug sich auf die Schenkel, ein zweiter lachte bellend, einem dritten kamen vor Wonne die Tränen. Ich war an der allgemeinen Heiterkeit auch beteiligt, aber nur mit einem stillen traurigen Lächeln. Wie jemand, der plötzlich aus der universellen menschlichen Dummheit, auch aus der eigenen, etwas begriffen hat.
Post Scriptum: Diesen Text schrieb ich im Sommer 1988. Der tschechoslowakische Staat war noch eine Diktatur, und Václav Havel stand seine Gefängnisstrafe bevor. Alexander Dubček gab nach langem Schweigen seine ersten Interviews in der Westpresse. Michail Gorbatschows Glasnost stolperte soeben an dem Konflikt um Karabach. Erich Honecker prophezeite der Mauer hundert Jahre und ließ sowjetische Zeitschriften beschlagnahmen. In Ungarn hieß der offizielle Slogan „sozialistischer Pluralismus“. Der tschechoslowakische Staat ist inzwischen gespalten, Havels kurzer gloire gehört der Vergangenheit an. Dubček ist als politische Randfigur gestorben. Die Sowjetunion hat sich aufgelöst, Gorbatschow ist nur noch eine historische Reminiszenz. Die Mauer ist gefallen, es gibt keine sowjetischen Zeitschriften mehr, die Erich Honecker – ein Ausländer in Chile – beschlagnahmen lassen könnte. In Ungarn ist der Pluralismus alles andere als sozialistisch. Von dem Jahr 1988 ist allein der Krieg in Berg-Karabach übriggeblieben.
Die Hoffnungen von vor 25 Jahren lassen sich bestenfalls archivieren. In der Berliner U-Bahn betteln Zigeunerkinder aus Rumänien und haben mit schlechtem Deutsch vollgeschriebene Zettel in der Hand. Sie sind die Vorposten des osteuropäischen Elends, das in jenen Augusttagen 1968 in unserer Zukunft vorprogrammiert war. Damals ging es um das Leben und heute um das Überleben. Wer über den Prager Frühling nachdenkt, soll gleich an den Winter von Sarajevo denken.
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