: Touristen statt Soldaten!
Bittere Lektionen: Erlebtes Nordzypern – Der Norden der geteilten Insel im östlichen Mittelmeer ist kein einfaches Reiseziel. Größtenteils türkische Touristen tummeln sich an leeren Stränden in morbiden Ferienanlagen ■ Von Günter Ermlich
Flughafen Ercan auf Nordzypern. Paßkontrolle. Wir bitten den Diensthabenden, das Visum auf einen extra Zettel zu stempeln. Mit einem nordzypriotischem Visum im Paß könnten wir später nicht in den griechischen Süden der geteilten Mittelmeerinsel einreisen. Auch nicht nach Griechenland. Denn die „Türkische Republik Nordzypern“ wird wie eine Phantomrepublik behandelt: Weder von der UNO noch von einem anderen Land – mit Ausnahme der Türkei – ist sie diplomatisch anerkannt. Seit 1974 gilt sie als türkisch besetztes Territorium.
Nikosia (türkisch: Lefkosa) ist die letzte geteilte Stadt Europas. Ein mächtiger venezianischer Befestigungsring, 1570 gegen die Osmanen errichtet, umgibt die heutige türkische Altstadt. Ein überdachter Basar, enge verwinkelte Gassen, Kebab-Buden, eine „Islamic Faisal Bank“, die Selimiye-Moschee, die vor der osmanischen Umrüstung mit zwei Minaretten als gotische St.-Sophia-Kathedrale gebaut wurde. Für die vielen Besucher vom türkischen „Mutterland“ ist Nikosia eine Fundgrube begehrter Markenkleidung. Außerhalb der Stadt werden Imitate von Adidas, Boss, Lacoste hergestellt, erzählt unser Reiseleiter Peer Teichgräber. Ohne Lizenz, versteht sich. 20 Mark kostet die Levis.
Mitten auf dem Atatürk-Platz steht eine große venezianische Granitsäule mit einer Weltkugel drauf. Über dem Gebäude der UBP, der regierenden Nationalen Einheitspartei, prangt das übermächtige Antlitz von Atatürk. Vom Balkon des „Saray-Hotels“ haben wir die beste Aussicht über die geteilte Stadt: unter uns die türkische Altstadt mit ihren historischen Gebäuden (40.000 Einwohner), dahinter die modernen Hochhäuser der griechischen Neustadt (160.000 Einwohner).
Die „Yesilgazino Sokak“ ist eine Sackgasse. Ein Eisengitter, darüber Stacheldraht gezogen, mit roten Blechschildern: ein gemalter Soldat mit geschultertem Gewehr, „No photography“, „Verbotene Zone“. Autos parken den Platz vor dem Grenzzaun zu. Von einem Balkon flattert eine Fahne mit dem türkischen roten Halbmond. Kein militärischer Posten ist zu sehen. „Das ist ja gar keine richtige Grenze“, diagnostiziert ein Neufünfländer. Die bessere Hälfte eines schwäbischen Ehepaars findet „die Grenze ein bißchen schlampig“. Doch der Eindruck trügt: Die harmlos green line genannte Demarkationslinie ist hermetisch abgeriegelt. 2.100 (inzwischen weniger, ca. 1.500) Blauhelme der UNO-Friedenstruppe bewachen die insgesamt 217 Kilometer lange entmilitarisierte Pufferzone, die die Insel horizontal zerschneidet in den türkisch-zypriotischen Norden und den griechisch-zypriotischen Süden.
Wir passieren im Reisebus den einzigen offiziellen Checkpoint am „Ledra Beach Hotel“. Die einstige Nobelherberge ist jetzt Hauptquartier der kanadischen UN- Truppen. Von unserer Seite nach Süden ist die Grenze absolut dicht. Touristen vom Süden hingegen können mit einem Tagesvisum den Norden besuchen. Ein Stück weiter markieren drei übereinander gestapelte, weiß übermalte Öltonnen die Grenze. An der Hausfassade des „Englisch Language Center“ sind die Einschußlöcher gut konserviert. Ein Schild „Museum of Barbarism“ weist auf ein Privathaus. Im Dezember 1963 wurden hier die Frau und die drei Kinder eines türkischen Offiziersarztes von der griechisch-zypriotischen EOKA/B-Terrorbande ermordet.
Nacherlebtes Grauen. Die drei „Märtyrerdörfer“ Atlilar, Sandellar und Murataga sind „etwas, was man im Südteil der Insel den Touristen bestimmt nicht vorzeigen kann“, versichert Peer. Bei der Landung der türkischen Armee 1974 hatte die EOKA/B 130 Frauen und Kinder kaltblütig ermordet und in Massengräber verscharrt. Wie seine Nachbardörfer wurde Sandellar fast dem Erdboden gleichgemacht. Heute leben noch 16 Bewohner hier. Ein Mahnmal mit einer Liste der Toten erinnert an die Schandtat. „Tourismus ist eine internationale Begegnungsstätte, die man nicht mit Grenzen begrenzen darf“, doziert Mehmet Bayram, der nordzypriotische Tourismus- und Verkehrsminister in Personalunion. Die Realität sieht jedoch anders aus: Wegen der internationalen Ächtung Nordzyperns müssen alle Flugzeuge eine Zwischenlandung („technischer Stopp“) auf einem türkischen Flughafen machen. Das verteuert die Verbindung und verlängert die Anreise beträchtlich. Bayram ist Herr über 8.000 Betten. Weniger, als so mancher Fremdenverkehrsdirektor einer alpenländischen Tourismusgemeinde unter sich hat. 1992 kamen 186.000 Touristen aus der Türkei und 55.000 aus dem „sonstigen“ Ausland, darunter vorwiegend Engländer und Deutsche. Tourismus ist mit Abstand der wichtigste Wirtschaftsfaktor. Auf 254 Millionen Dollar beziffert Minister Bayram die Deviseneinnahmen aus dem Tourismus für 1992. Das sind satte 70 Prozent aller Deviseneinkünfte. Wobei die Festlandtürken natürlich keine Devisen mitbringen, sondern die auch im Nordteil übliche Türkische Lira.
Nordzypern setzt den Hebel besonders an den Tourismus, um so ein wenig aus dem völkerrechtlichen Abseits zu kommen und sich als friedliebendes und freundliches Land zu präsentieren. Deshalb finanziert die türkisch-zypriotische Regierung einen Teil der Werbekampagnen der Hoteliers und Veranstalter. Sie subventioniert den Flugverkehr durch Risiko-Beteiligung: Bei weniger als 80prozentiger Auslastung einer Chartermaschine übernimmt sie die Hälfte der Verluste. Wenn ein Investor im Tourismussektor 50 Prozent verbaut hat, bekommt er von einer Entwicklungsbank die restlichen 50 Prozent zu vergünstigten Kreditzinsen. Erst 10 Jahre nach Fertigstellung muß der Betreiber eines Hotels Steuern zahlen.
Nordzypern ist ein hochgerüsteter Landstrich. Ein Flickenteppich von Kasernengeländen, Truppenübungsplätzen, mit Maschendrahtzaun abgesperrten Gebieten. Die ganz in Grün gewandeten 30.000 bis 35.000 türkischen Soldaten und die 5.000 türkisch-zypriotischen Soldaten beherrschen die Altstädte von Nikosia/Lefkosa, Kyrenia/Girne und Famagusta/Magosa. Etwa jeder vierte der 160.000 Einwohner ist ein Grünrock. Daran führt beim besten Willen kein Touristenblick vorbei. Wie in der Ferienanlage Acapulco bei Girne. Wenn der rote Feuerball der Sonne scharf neben dem militärischen Wachturm, der auf der nahen Hügelspitze thront, ins Meer versinkt...
Wirtschaftlich ist Nordzypern vom Alleinsponsor Türkei abhängig. Ankara sorgt für die Verbesserung der Infrastruktur. Es baut ein Elektrizitätswerk, Straßen, den neuen Militärhafen von Girne. Und bestreitet mit 50 Prozent direkt oder indirekt den Staatshaushalt.
Im Dezember 1963 kam es auf der östlichsten Mittelmeerinsel zu Terror und Gegenterror zwischen griechischen und türkischen Zyprioten. Die türkischstämmigen Zyprioten flüchteten aus den gemischten Siedlungen in dörfliche Enklaven und städtische Ghettos. Mit Hilfe der UNO-Friedenstruppe wurden die Kämpfe beigelegt. Aus der türkisch-zypriotischen Perspektive fällt der Beginn des Zypernkonflikts in die Periode 1963 bis 1974. Der von der damaligen Athener Militärjunta inszenierte Putsch auf Zypern veranlaßte 1974 die Invasion der türkischen Armee, die 37 Prozent des zypriotischen Territoriums besetzte. Sie erzwangen damit de facto die Trennung der Inselbewohner nach ihrer ethnischen Abstammung. Etwa 165.000 griechische Zyprioten flüchteten sich in den „griechischen“ Südteil, 35.000 türkische Zyprioten in den „türkischen“ Nordteil. Der Bevölkerungsaustausch wurde mit Hilfe der UNO bewerkstelligt. Seitdem leben 18 Prozent im Norden und 82 Prozent im Süden. Aus der griechisch-zypriotischen Perspektive ist die türkische Besetzung 1974 der Auslöser des Konflikts. Zypern kennt zwei Lesarten, zwei Geschichtsschreibungen des Problems. Die ethnischen Gruppen beider Inselteile pflegen ihre gegenseitigen Bedrohungsängste, obwohl aufgrund der rigorosen Trennung die jungen türkischen Zyprioten noch nie einen leibhaftigen jungen griechischen Zyprioten gesehen haben und umgekehrt.
Die Hafenstadt Famagusta (türkisch: Magosa) war vor dem Bürgerkrieg die Urlaubshochburg schlechthin. Das zypriotische Torremolinos. Eine „goldene Meile“ mit einer Skyline aus Hoteltürmen. Heute ist Varosha, die vor 1974 von den griechischen Zyprioten bewohnte Neustadt Famagustas, eine vom türkischen Militär besetzte und bewachte „Geisterstadt“. Off limits und ohne Zivilisation. Ein ruiniertes Mahnmal des Krieges. Nach 19 Jahren Leerstand sind die 10.000 Touristenbetten längst von Ratten und Seeluft zerfressen. Die meist türkischen Touristen, die sich am Swimmingpool des „Palm Beach Hotels“ räkeln, haben die Demarkationslinie direkt vor der Nase. Doch die Hotelstadt gilt als wichtiges Faustpfand für die Verhandlungen mit der griechisch-zypriotischen Seite.
„Der Krieg hatte für alle Touristen sogar etwas Gutes. Alle 150 Badebuchten, kilometerlanger herrlicher Sandstrand, sind völlig leer“, schrieb die Bild-Zeitung am 18.8. 1975 über das „Ferienparadies Zypern – ein Jahr nach dem Krieg“. Die Touristen von heute kommen nach wie vor wegen der touristischen Dreieinigkeit Sonne, Sand und Strand nach Nordzypern. Verloren hockt das Paar aus Mönchengladbach in der weitläufigen Lobby des 960-Betten-Hotels „Salamis Bay“ über Prospekten. „Wo gibt es denn sonst noch so leere Strände?“ fragt die Frau. In den großartigen Ausgrabungsstätten des antiken Salamis, des im 8. Jahrhundert bedeutendsten Stadtkönigtums der Insel, schreckt der einsame Tourist höchstens eine der zahlreichen Eidechsen auf.
Rauf Denktas, der kleine kugelrunde Mann, nennt sich Präsident, seitdem er am 15.11. 1983 die selbsternannte „Türkische Republik Nordzypern“ ausrief. Wer Denktas reden hört, der glaubt nicht daran, daß er ernsthaft an der Überwindung der Inselteilung interessiert ist. Er fordert wie gehabt eine Zwei-Zonen-Föderation, einen Bundesstaat aus zwei politisch gleichberechtigten Gebilden. Doch bei den anstehenden UNO- Verhandlungen gibt es für ihn kein Zurück zur „Vermischung“ der beiden Ethnien. Eindringlich warnt er den UN-Sicherheitsrat davor, „Zypern in Bosnien zu verwandeln, weil die Zeit noch nicht reif ist, daß Griechen und Türken wieder zusammenleben können“. Er hat dafür gesorgt, daß sein Machtbereich mit geschätzten 80.000 eingewanderten Türken, meist aus Anatolien, „türkisiert“ worden ist.
Kyrenia (türkisch: Girne) ist immer noch ein touristisches Kleinod. Mediterrane Atmosphäre mit Cafés und Restaurants. Kleine Fischerboote und Yachten schaukeln in dem hufeisenförmigen Hafenbecken. Ein viereckiges byzantinisches Kastell, in dem sich ein sehenswertes Schiffswrackmuseum befindet, überragt die malerische Bucht. Früher war Girne ein „Insidertip für Künstler, Aussteiger und englische Offiziere“, erzählt Peer. Doch der Lack der touristischen Hoch-Zeit ist auch hier abgebröckelt. Bis 1974 überwiegend von griechischen Zyprioten bewohnt, ist jetzt alles türkisch: Die Schilder der Straßen, die Namen der Cafés und Restaurants, der Muezzin von der Moschee und der Ortsname mutierten vom griechischen Kyrenia zum türkischen Girne. Die griechischen Zyprioten mußten nach Süden fliehen; ihr Besitz wurde enteignet.
Nicht nur geotouristisch, sondern auch geostrategisch war und ist Girne von besonderem Interesse. In einer nahen Bucht landeten am 20. Juli 1974 die türkischen Truppen, um ihre „Friedensoperation“ als Reaktion auf den Putsch der griechischen Militärjunta in Zypern zu starten. Am „Landungsstrand“ neigt sich ein vielgezacktes Betonungetüm vornüber. Das Denkmal erinnert stark an die Berliner „Hungerkralle“, das Luftbrückendenkmal auf dem Flughafen Tempelhof.
„Ich war auf etwas Schönes gefaßt, denn ich wußte bereits, daß das verfallene Kloster von Bellapaix eins der bezauberndsten gotischen Überbleibsel der Levante ist, aber ich war nicht auf die atemberaubende Harmonie mit dem kleinen Ort gefaßt, der es an der Flanke der Berge umfängt und umwiegt.“ Auch heute liegt Bellapaix im Regen und Nebel, genauso wie es der englische Schriftsteller Lawrence Durrell in seinen Cpyern-Erlebnissen der fünfziger Jahre beschrieb. Auf dem Dorfplatz steht noch immer der von Durrell literarisch verewigte „Baum des Müßiggangs“.
Die 80 Kilometer lange Halbinsel Karpaz, der Daumen, den Nordzypern nach Osten ausstreckt, ist das landschaftlich reizvollste Fleckchen. Abgeschieden, kaum bevölkert, touristenarm. Bis 1985 war Karpaz militärisches Sperrgebiet. Heute ist es weitgehend Naturschutzgebiet, in dem nicht gebaut werden darf. Hier erstrecken sich hinter Dünenlandschaften unberührte Fünf-Sterne- Strände. Kenner der Materie halten sie für die schönsten am Mittelmeer. Im kleinen Dorf Dipkarpaz ist die Welt noch halbwegs in Ordnung. Hier leben tatsächlich noch 400 griechische Zyprioten – 745 sind es auf dem gesamten Karpaz – gemeinsam mit angesiedelten Türken aus Anatolien. Sie bauen Kartoffeln, Weizen, Oliven, Tomaten an und züchten Schafe und Ziegen. Einträchtig steht die griechisch-orthodoxe Kathedrale, die letzte mit einem orthodoxen Gottesdienst auf Nordzypern, neben der nagelneuen Moschee. Überall parken Traktoren an der Dorfstraße. Kinder in Schuluniformen winken uns zu und rufen freundlich „Hello“. Im Kahvesi des griechischen Zyprioten Andreas Ahillea besaufen sich türkische Polizisten. Mehmet, ein junger Schafhirt aus dem türkischen Bursa, posiert mit einem Lamm im Arm willig fürs Foto. Die Milch, die die Schafe seiner Herde produzieren, wird zur Grenze gebracht und dann im Südteil der Insel verarbeitet.
Veranstalter:Die Informationsreise wurde durchgeführt von ATT-Touristik, Esslinger Straße 7, 7022 Leinfelden-Echterdingen 2. Weitere Nordzypern-Veranstalter: Transorient (München), Delta (Frankfurt), Hausdorf (Berlin), Plärrer (Nürnberg).
Literatur: Klaus Bötig: „Richtig Reisen“, DuMont; Klaus Hillenbrand: „Cypern“, Beck'sche Reihe. Aktuelle Länderkunde; Laurence Durrell: „Bittere Limonen. Erlebtes Cypern“. rororo.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen