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Auch Einkaufen will gekonnt sein

■ Im Werkheim lernen Jugendliche mit Behinderungen nicht nur Basteln / Ziel ist Selbständigkeit im Alltag / Kritiker sehen den Standard der Betreuung gefährdet

Berlin. Gunnars Ehrgeiz ist es, einmal Socken mit fünf Nadeln zu stricken. Was aus dem Wollappen werden soll, den er gerade bearbeitet, weiß er noch nicht. Seit vergangenem Sommer besucht er das Jugendwerkheim Kreuzberg. „Das ist auch das Beste“, sagt er und lacht nervös. „In eine Werkstatt könnte ich noch gar nicht gehen.“ Der 18jährige ist schwer lernbehindert und verhaltensgestört. Hans- Dieter ist auf einem Auge fast blind und leidet an einer Beckenluxation. Angestrengt blickt er auf das Stirnband, das sich unter seinen Nadeln verbreitert. „Das ist schwierig. Immer fallen Maschen runter, und das sehe ich nicht“, sagt er.

Im Jugendwerkheim Kreuzberg werden 64 Jugendliche und junge Erwachsene mit unterschiedlichen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen betreut. Sie erhalten in acht Werkstätten eine handwerkliche Grundausbildung in den Bereichen Textilarbeit, Glasbearbeitung, Holzarbeit und Keramik. Auch reparieren sie die Möbel der Integrationskita, die im gleichen Haus untergebracht ist, und pflanzen im Garten Gemüse und Blumen. Mit dieser Qualifikation sollen sie nach drei bis vier Jahren in der Lage sein, in einer Behindertenwerkstatt oder anderen Betrieben zu arbeiten.

Zähneputzen ist kein Kinderspiel

„Unser Ziel ist es, den jungen Menschen ein Höchstmaß an Selbständigkeit im Alltag zu vermitteln“, sagt Leiterin Gabriele Siebenhaar. Dazu gehört der Alphabetisierungs- und Verkehrsunterricht, das Sportprogramm, aber auch Einkaufen und Kochen lernen, Briefe aufgeben, Zähne putzen und U-Bahn-Schilder lesen. Fragen zu Sexualität, Verhütung und Elternschaft beantwortet einmal monatlich eine Mitarbeiterin von Pro Familia. Umwelt und Umfeld werden auf Ausflügen erkundet. Das „Wegetraining“ soll die Jugendlichen so weit selbständig machen, daß sie nicht immer auf die Eltern oder das Taxi angewiesen bleiben. Wenn die jungen Erwachsenen das Werkheim verlassen, sind sie meist in der Lage, sich auf einen Raum und eine Tätigkeit zu konzentrieren. „Sie können mehr Verantwortung für sich übernehmen und sind selbstbewußt genug, um zu sagen, was sie wollen und was nicht“, beschreibt Gabriele Siebenhaar die Erfolge ihrer Einrichtung.

Die neun Jugendwerkheime in Westberlin sind die einzigen in der ganzen Bundesrepublik. Für die neuen Länder ist lediglich die Einrichtung von Fördergruppen in Behindertenwerkstätten vorgesehen. Die bestehenden Jugendwerkheime sollen in freie Trägerschaft übergehen. „Grundgedanke ist es, daß nicht mehr alle sozialen Dinge von Senat und Bezirksamt gemacht werden müssen“, sagt Wolfgang Zügel, Sprecher der Sozialsenatsverwaltung. Freie Träger könnten zudem Bundesmittel einfordern. Auch können Rehabilitation und Förderung systematisiert werden, da die Behinderten mit 25 Jahren ohnehin in Einrichtungen anderer Träger kämen.

„Fördergruppen können eine individuelle Föderung gar nicht leisten, weil die Werkstätten wirtschaftlich arbeiten müssen“, sagt Siebenhaar. Mit den Planungen ginge außerdem die Orientierungsphase vor dem Berufsleben verloren. Auch die Jugendstadträte der betroffenen Bezirke kritisieren die Planungen. „Wir befürchten qualitative Verluste“, sagt Wolfgang Borchardt (SPD), Jugendstadtrat von Kreuzberg. Hinter der geplanten Neuorganisation sieht der Jugendstadtrat einen verbreiteten Mechanismus am Werk. „Gespart“, so sagt Wolfgang Borchardt, „wird hier zu Lasten der Schwächsten.“ Corinna Raupach

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