: Das multinationale Volk der Rußländer
Droht nach dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens nun auch die Auflösung der Russischen Föderation? Vor allem aus wirtschaftlichen Interessen fordern viele Regionen Rußlands größere Unabhängigkeit von Moskau. ■ Von Christoph Mick
Über das, was Rußland ist und was es sein soll, streiten die Russen nicht erst seit dem Zerfall der Sowjetunion. Die Schwierigkeiten fangen schon beim Namen an: Rußland ist nicht einfach das Land der Russen, Rußland war und ist ein Vielvölkerstaat. Die Russische Föderation – so der Staatsname – setzt sich aus Autonomen Republiken, Autonomen Gebieten, Autonomen Kreisen, Regionen und Gebieten zusammen.
Präsident Boris Jelzins Entwurf für eine neue Verfassung – vom Rat der Republiken am 25. Mai einstimmig gebilligt – trägt diesem Umstand Rechnung. Er geht nicht von einem ethnisch bestimmten Staatsvolk aus, sondern von einem „multinationalen Volk“ als der „einzigen Quelle der staatlichen Macht“. Einige Beispiele: Lebt ein Baschkire in Moskau, stünde in seinem Paß unter der Rubrik „Staatsangehörigkeit“ Russische Föderation (Rußland), unter der Rubrik „Nationalität“ dagegen Baschkire. Ein in Baschkortostan lebender Russe ist entsprechend Staatsbürger der Russischen Föderation (Baschkortostan), Nationalität: Russe. Wer nicht weiß, welcher Nationalität ein Einwohner der Föderation angehört, sollte ihn als „Rußländer“ bezeichnen.
Rußland hat die Probleme der UdSSR geerbt
Rußland hat jetzt mit denselben Problemen zu kämpfen, an denen die Sowjetunion zerbrochen ist. Während Jelzin zunächst die Souveränität Rußlands gegenüber der sowjetischen Zentralregierung durchsetzte und damit den Zerfall der Union beschleunigte, muß er nun die Einheit Rußlands gegen die Selbständigkeitsbestrebungen der Republiken und russischen Provinzen behaupten. Allerdings ist die Russische Föderation, die 76 Prozent der Fläche und 51 Prozent der Bevölkerung der ehemaligen Sowjetunion umfaßt, ethnisch wesentlich homogener. 81 Prozent ihrer Einwohner sind Russen.
Die Gebietseinheiten haben abgestufte Selbstbestimmungsrechte, die früher weitgehend fiktiv waren, jetzt aber sehr real sind. Nur die Republiken besitzen politische Autonomie (Verfassung, eigene Staatsorgane und Staatsangehörigkeit). Sie haben allerdings nicht das Recht, aus der Russischen Föderation auszutreten. Die Gebiete und Kreise haben dagegen nur Verwaltungsautonomie.
Im März 1992 wurden mit dem Föderationsvertrag die Beziehungen zwischen der Zentralregierung und den 88 Gebietseinheiten neu formuliert. Dieser Vertrag besteht aus drei Teilen: zum einen aus einem Abkommen der Zentrale mit 18 ihrer inzwischen 21 Republiken. Tatarstan und Tschetscheno-Inguschien (inzwischen gespalten in Inguschien und Tschetschenien) haben den Vertrag nicht unterschrieben, sind aber völkerrechtlich nach wie vor Teil der Russischen Föderation. Der zweite Vertragsteil wurde mit den russischen Gebieten und der dritte mit den autonomen Gebietseinheiten abgeschlossen.
Die Zentrale behielt unter anderem die Rahmengesetzgebung in allen wichtigen Wirtschaftsbereichen. Hier haben die Glieder der Föderation nur Mitwirkungsrechte. Die russischen und autonomen Gebiete und Kreise sind daran interessiert, vor allem wirtschaftlich und steuerpolitisch ihre Rechte auf den Status von Republiken auszuweiten und nicht mehr als Vertragspartner minderen Rechts behandelt zu werden.
Beim jüngsten Referendum hat die Stadt Sankt Petersburg ihren Bürgern die Zusatzfrage gestellt, ob sie dafür wären, daß die Stadt den Status einer Republik erhalten sollte. Über 70 Prozent der Wähler stimmten mit Ja. Gleichzeitig erhielt auch Präsident Jelzin über 70 Prozent Zustimmung. Dies zeigt, daß Autonomiebestrebungen nicht automatisch der Föderation feindlich sein müssen.
Die Republiken wehren sich gegen eine Statuserhöhung der russischen Gebiete. Sie fürchten eine Machtminderung und eine Verwässerung ihrer „Souveränität“. Der dreiteilige Föderationsvertrag soll Bestandteil der Verfassung der Russischen Föderation werden.
Ein jahrhundertealtes Problem bestimmt auch heute die Beziehungen zwischen Moskau und den Gebietseinheiten. Die Größe des Landes und eine ineffiziente Bürokratie machten der Zentralregierung schon immer Schwierigkeiten, die Lebensverhältnisse in der Provinz zu gestalten: „Rußland ist groß, und der Zar ist weit.“ So werden in den Regionen die lokalen Sowjets in der Regel weiterhin von Angehörigen der alten Nomenklatura beherrscht, die den Wirtschaftsreformen Jelzins distanziert gegenüberstehen.
Dieses Problem konnten auch die „Vertreter des Präsidenten“ nicht lösen, die in die Regionen ausgeschwärmt sind. Jelzin hat zwar vom Obersten Sowjet das Recht zugesprochen bekommen, ein Jahr lang die Spitzen der regionalen Verwaltung zu bestellen. Doch er kann nur eingeschränkt Personalentscheidungen gegen die lokale Elite durchsetzen. Im März dieses Jahres berief Jelzin die Verwaltungsspitzen der Gebiete Irkutsk und Nowosibirsk wegen „Verstoßes gegen Gesetze“ ab. Sie hatten die Wirtschaftspolitik der Regierung scharf kritisiert. Daraufhin warfen nicht nur die lokalen Sowjets, sondern sogar seine eigenen Bevollmächtigten vor Ort Jelzin vor, ungesetzlich vorzugehen. Jelzin mußte seine Anordnung zurücknehmen.
Bis auf Tschuwaschien, Tuwa und Tschetschenien stellen die namengebenden Völker (Titularnationen) in keiner Republik die absolute Mehrheit. Sie haben es zudem mit Autonomiebestrebungen anderer Ethnien zu tun. Die unübersichtlichen Verhältnisse sind Resultate der willkürlichen Grenzziehungen in der Stalin-Zeit, die wenig Rücksicht auf die regionalen Besonderheiten nahmen. Grenzziehungen nach streng ethnischen Kriterien waren sowieso unmöglich. Zu viele Völker lebten auf engem Raum zusammen. Andererseits wurden manche autonomen Gebiete aus politischen Gründen eingerichtet. So installierte Stalin 1934 – ein noch existierendes – autonomes jüdisches Gebiet im sowjetischen Fernen Osten, „Birobidschan“, in dem nur 0,5 Prozent der 1,8 Millionen Juden in der Sowjetunion lebten.
Die meisten der etwa 130 Volksgruppen hatten aber kein eigenes Territorium. Dies wirkte sich verhängnisvoll aus, da Minderheitenrechte nicht an die Person, sondern an ein Gebiet gebunden waren. Nur als Titularnation einer territorialen Einheit hatte eine Ethnie die Möglichkeit, landessprachliche Schulen oder gar Universitäten zu unterhalten.
Der Verlust des Territoriums, wie es die Rußlanddeutschen, die Krimtataren und verschiedene Kaukasusvölker unter Stalin erlebten, bedeutete zugleich die Gefahr der Auslöschung ihrer besonderen Kultur. Dies erklärt, warum inzwischen in vielen Gegenden der Russischen Föderation „gebietslose Ethnien“ die Errichtung eigener autonomer Gebiete oder Republiken fordern.
Ein weiteres Ergebnis der sowjetischen „Kolonisierungspolitik“ ist der hohe russische Bevölkerungsanteil in den nationalen Gebieten. In zwölf Republiken stellen die Russen die größte nationale Gruppe. In der Republik Karelien sind von den 800.000 Einwohnern 80.000 Karelier, aber 580.000 Russen. Ein weiteres Paradoxon: In Tatarstan beträgt der Anteil der Tataren an den 3,8 Millionen Einwohnern nur 48 Prozent, 5 Millionen des nach den Russen zahlreichsten Volkes der Russischen Föderation leben außerhalb der Republik.
Wem gehört der Reichtum Tatarstans?
Die Einwohner Tatarstans haben sich in einem Referendum im März 1992 mehrheitlich für die Unabhängigkeit von Rußland ausgesprochen. Der Oberste Sowjet Tatarstans steht unter dem Druck der tatarischen Nationalisten in und außerhalb der Republik. Ein Alltatarischer Kongreß tagte im Februar 1992 und reklamierte für sich das Recht, im Namen der Tataren zu sprechen. Denn im Obersten Sowjet Tatarstans sei „nur ein unbedeutender Teil des tatarischen Volkes“ repräsentiert. Der Kongreß erklärte die Naturschätze zum Eigentum des tatarischen Volkes, bestimmte Tatarisch zur Staatssprache und beschloß die Unabhängigkeit der Republik.
Unter diesem Druck schlug auch der Oberste Sowjet Tatarstans gegenüber Moskau eine nationalistische Richtung ein. Nur solange er auf Unabhängigkeitskurs liegt, wird er von den Nationalisten als Repräsentant des tatarischen Volkes anerkannt. Am russischen Referendum vom 25. April 1993 haben so nur 21 Prozent der Einwohner Tatarstans teilgenommen. Die national-tatarischen Gruppen hatten zum Boykott aufgerufen.
Wem gehören die Reichtümer Tatarstans? Gehören sie den Einwohnern der Republik, also auch der russischen Bevölkerung? Gehören sie nur den in der Republik lebenden Tataren? Oder sind alle Tataren, auch die außerhalb Tatarstans lebenden, kollektive Eigentümer der Schätze des Landes?
Die Gefahr des Auseinanderfallens der Russischen Föderation scheint dennoch momentan gebannt. Die regionalen politischen Eliten nutzen zwar den Verfassungskonflikt der Zentrale aus, um ihren eigenen Spielraum auszuweiten. Doch geht es den meisten Republiken und Regionen nicht um die Gründung unabhängiger Staaten, sondern um die Verfügungsgewalt über ihre wirtschaftlichen Ressourcen.
In Baschkortostan wurde in einer Zusatzfrage zum Referendum nicht nach der Meinung der Einwohner zur politischen Unabhängigkeit, sondern zur wirtschaftlichen Souveränität der Republik gefragt. 75 Prozent der Bevölkerung, also auch viele Tataren und Russen, entschieden sich dafür.
Jahrhundertelang wurde das Schicksal der Regionen in Sankt Petersburg und Moskau entschieden, ohne daß viel Rücksicht auf lokale Gegebenheiten genommen wurde. Später waren 98 Prozent des Industriepotentials Tatarstans entweder russischen oder sowjetischen Behörden unterstellt. Gerade das industriell relativ entwickelte Tatarstan profitierte nur wenig von seiner devisenträchtigen Erdölproduktion (26 Prozent des russischen Erdöls).
Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat eine Machtverlagerung von der Zentrale in die Regionen stattgefunden. Die lokalen russischen und nationalen Eliten wachen eifersüchtig über ihre neu erworbenen Rechte. Nach anfänglichen Ausrutschern betreibt Jelzin eine flexible Politik. Die russischen Truppen aus Tschetschenien wurden zurückbeordert, und auch Tatarstan wurde für seine Eigenwilligkeit nicht zur Rechenschaft gezogen.
Jelzin hat es verstanden, in den Auseinandersetzungen mit dem Obersten Sowjet die Führungen der Republiken und die russischen „Provinzfürsten“ auf seine Seite zu ziehen. Sie unterstützten ausdrücklich das Referendum. Die Republiken waren aber gegen die – ursprünglich geplante – Abstimmung über die neue russische Verfassung. Sie fürchteten, daß ihre im Föderationsvertrag festgeschriebenen Rechte dadurch in Frage gestellt würden. Allerdings hatte in zehn Republiken die Mehreit der Bevölkerung kein Vertrauen zum Präsidenten. In Inguschien in der Bürgerkriegsregion Nordkaukasus erhielt Jelzin nur 2,4 Prozent der Stimmen.
Trotzdem beschleunigte das Referendum nicht – wie befürchtet – die Desintegration Rußlands, sondern war eher ein Zeichen für das Interesse fast aller Regionen an einer Erhaltung der Föderation. Den Eliten ist klar, daß sie ökonomisch auf den Wirtschaftsraum Rußland angewiesen sind – Selbstverwaltung und Verfügungsgewalt über die Reichtümer: ja; völlige Lösung von Rußland: nein.
Ein weiterer integrativer Faktor ist der hohe russische Bevölkerungsanteil. Die Russen in den nationalen Gebieten sind zwar bereit, auf dem Weg zur wirtschaftlichen Autonomie mit den Titularnationen zu gehen, aber politische Loslösungstendenzen von Rußland werden sie nicht unterstützen.
Großrussische Chauvinisten warten auf ihre Chance
Auch für Jelzin ist die Erhaltung der territorialen Integrität und Einheit Rußlands vorrangiges Ziel. „Einheit in der Vielfalt“ ist die Devise seines Verfassungsentwurfs. Eine Bundesversammlung (bestehend aus einem „Rat der Föderation“ und einer „Staatlichen Duma“) soll den Volksdeputiertenkongreß ersetzen. Die Macht der Zentrale hat im Verfassungsentwurf des Präsidenten noch das Übergewicht.
Die Gefahr für die Existenz der Russischen Föderation geht jedoch nicht nur von den Regionen und Ethnien, sondern auch von den Eliten im Zentrum aus. Nach dem Ende des Marxismus-Leninismus fehlt in Rußland eine einheitsstiftende Idee. Sowjetnostalgiker und großrussische Chauvinisten können den Verlust des Sowjetimperiums nicht verschmerzen und kompensieren ihn durch extrem nationalistische Töne. Nationalisten und Monarchisten haben sich mit den „Sowjetpatrioten“ verbündet und bieten eine Synthese zwischen dem vorrevolutionären Russischen Reich und dem Sowjetimperium als neuen Orientierungspunkt an. Dieses Rußland ist zentralistisch, antiwestlich, antikapitalistisch, antidemokratisch und antisemitisch. Sie lehnen parlamentarische Demokratie und Gewaltenteilung für Rußland ab.
Das Wiederaufleben eines ethnisch-russischen Nationalismus kann für die übrigen Völker Rußlands nur katastrophale Folgen haben. Die Hauptaufgabe der russischen Demokraten besteht daher in der „Propagierung“ der Idee des „multiethnischen Rossija“. Von den Völkern Rußlands kann er nur in einer von den Machtansprüchen des Zentrums „gereinigten“ Form akzeptiert werden. Ein demokratisches Rußland ist nur als echte Föderation, als Rußland der Regionen möglich.
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