: Ghetto und Selbstghettoisierung
Das Ende der jüdischen Ghettos markiert nicht das Ende des Ghettos überhaupt / Doch während das Ghetto früher noch eine ökonomische Bedeutung besaß, ist es heute ganz zum Ort der Verelendung verkommen ■ Von Klaus Schüle
Heute, da alles relativiert und zerredet werden kann, ist es vielleicht gefährlich, von den Prozessen der Ghettoisierung und Selbstghettoisierung zu sprechen. Denn unter dem Vorwand, die Wahrheit ans Licht zu bringen, werden neuerdings die letzten Tabu-Zonen aufgelöst. Doch merkwürdigerweise verkehrt sich, medial verstärkt, der pluralistische Diskurs und produziert allzu oft nichts anderes als Vorurteil, Aussperrung und Gewalt. Diesen Mechanismus kann man wahrnehmen, wenn in bestimmten Städten von „Drogenvierteln“, von den „Nestern der Gewalt“ oder mit Vorliebe in Hochhausgegenden von „Harlem“ gesprochen wird. Zu Recht also warnen eine Menge Leute davor, das Wort „Ghetto“ bei seiner beladenen Geschichte so einfach und umstandslos auf die Jetzt-Zeit und auf sehr verschiedene Verhältnisse anzuwenden.
Das jüdische Ghetto
Die Herkunft des Wortes „Ghetto“ ist zwar unklar, umso klarer sind seine Entstehungsbedingungen: Als nach der Städtebildung die sozialräumliche Gliederung der Stadt im ausgehenden Mittelalter sich immer deutlicher herauskristallisierte, wurden bestimmte Bevölkerungsgruppen im Inneren der Stadt isoliert.
Natürlich gab es auch davor soziale Ausschlußregeln – Kranke, Schauspieler, Studenten wurden je nach Stadtordnung außerhalb der Mauern gehalten. Im Inneren der Stadt aber und in dieser sozialräumlich rigiden Form waren in den Städten nur die Juden betroffen. Das Ghetto war jener genau umrissene städtische Raum, der die christlichen von den jüdischen Vierteln unterschied. Es gab eine Mauer um das Viertel und oft nur einen (bewachten) Eingang.
Die Geschichte des Ghettos ist also zunächst einmal die Geschichte des jüdischen Ghettos. Während sich in Westeuropa die Bedingungen im Ghetto eher lockerten, ist in Osteuropa die Lage noch lange bedrückend gewesen. Die Einschränkung politisch administrativer und kultureller Rechte hat im Osten allerdings nicht überall zu total repressiven Verhältnissen geführt. Mancherorts hat schon die schiere Größe und ökonomische Wichtigkeit eine besondere Rolle für die Stadt gespielt. Trotz seiner Abgeschlossenheit hatte das jüdische Schtetel in Polen, Ungarn und in der Tschechoslowakei eine ungeheuere innere Freizügigkeit und kulturelle Kreativität.
Der nationalsozialistische Genozid hat dann scheinbar ein für allemal das jüdische Ghetto zerstört. Der Aufstand im Warschauer Ghetto, so meinen viele, war das Ende. Das Ende des jüdischen Ghettos – vielleicht, aber das Ende des Ghettos überhaupt?
Die heutigen Ghettos
In Asien, Afrika und Lateinamerika sind Ghettos überwiegend Armen-Ghettos mit einer Sozialstruktur und sozialen Bewegungslinien, wie sie in Europa zur Hoch-Zeit der Industrialisierung sehr oft vorhanden waren. Die Vorstädte waren dabei Mülleimer und Vorratskammer in einem: Zwar gelang es nur wenigen Ghettobewohnern, die Vorstadtslums zu verlassen, aber das Ghetto bot immerhin eine gewisse soziale Sicherheit, ein informelles Betätigungsfeld, und es bot – beschränkte – Aufsteigerperspektiven.
Genau diese Perspektive bieten die nordamerikanischen Ghettos nicht mehr; im Gegenteil, die Schwarzen-Ghettos zumindest werden offensichtlich sozial immer homogener, subproletarischer, d. h. sie verlieren als Rassen-Ghettos jede ökonomische Funktion (Wilson) und somit auch jede soziale und kulturelle Perspektive. Die geradezu autistische soziale Situation bestimmt das Leben im Ghetto.
In den stärker industrialisierten Ländern Europas – so kann man verallgemeinernd sagen – gibt es häufig den Typ des ethnisch gemischten Stadtghettos. Am stärksten konzentriert und vor allem politisch gewollt ist die ethnische Ghettoisierung wahrscheinlich in den Hochbau-Ensembles der französischen Großstädte gewesen. Die sozialen Konflikte und Probleme in diesen Stadträumen ergeben sich dort wie auch anderswo gar nicht so sehr aufgrund der ethnischen oder kulturellen Unterschiede, sondern weil – je nach Infrastruktur, Wohndichte und kommunaler Versorgung – die sozialen Wege der verschiedenen Schichten auseinanderfallen (Pinçon). Aufsteigende, stagnierende und absteigende Schichten und Klassen reiben sich aneinander und produzieren Diskriminierung, Ausschließung und Gewalt.
Die Ghettoisierung des Raumes
In der nordwestlichen Vorstadt von Paris liegt die „Cité de la Muette“ auf dem Gebiet der Gemeinde Drancy. Sie wurde Anfang der 30er Jahre als eine jener idealen, sozialen Garten-Idylle gebaut, wie sie in Europa überall existierten. Schon nach einigen Jahren begann die Garten-Stadt innerlich und äußerlich zu verwildern, und so stopfte man schon 1939 die exilierten Deutschen in diese City. Die Umwandlung in ein Konzentrationslager war sehr leicht: Man schloß vorne die offene Seite der riesigen hofartigen Baublocks mit Stacheldraht und stellte ein paar Baracken auf. Fertig war das Ghetto. Später dann wechselte die Belegung. Drancy wurde zum Todeslager für ca. 100.000 Juden, die über dieses Lager nach Deutschland und in den Tod getrieben wurden. Die französische Verwaltung wechselte dann 1944 noch einmal die Besatzung. Ins Lager wurden die Kollaborateure interniert. Die Cité de la Muette ist mit geringem Aufwand heute wieder zur Garten-Stadt verwandelt worden. Erinnerungstafeln verweisen auf die Geschichte.
Die problemlosen Wandlungen des Ortes geben zu denken. Und doch spiegelt diese Entwicklung vielleicht eher eine ältere historische Erfahrung wider. Spätestens mit Foucault nämlich hat die Sozialpsychologie und Sozialgeschichte gesehen, daß in neuzeitlichen Verhältnissen die älteren Ausschließungsformen mit Mauern, Zellen und Zäunen so nicht mehr notwendig waren. Die Grenzen wurden durch Blicke, Verhaltensweisen und oft durch Drohung und Gewalt gezogen.
Selbstverständlich spielen die realen Raumstrukturen auch heute noch eine ganz entscheidende Rolle. Man hat sich selten die Mühe gemacht, genau zu betrachten, wie Straßen und Eisenbahnführungen ganze Stadtviertel ghettoisiert haben, wie die Auflösung der Straßenlinie, die Einrichtung von Wohnblocks in „gespiegelter“ Anordnung die Kontaktzonen real zerschnitten und vor allem wie die neuen Geschoßhöhen sich auf das Miteinander der Bewohner auswirkte.
Implosionen und Explosionen
Vieles spricht dafür, daß wir es in den städtischen Ghettos Westeuropas und Amerikas eher mit sozialen Implosionen als mit Explosionen zu tun haben. Gemeint ist nicht so sehr die Tatsache, daß die Gewaltkriminalität in den Ghettos sich überwiegend auf die Ghettobewohner selbst richtet. Gemeint ist das gesamte „innere Elend“ der Ghettobewohner, das bestenfalls in literarisierter Form wahrgenommen wird. Man sage nicht, dies sei zu schwierig zu erheben. Im Ghetto herrscht Geisteskrankheit ebenso wie Magersucht; die 850 Selbstmorde überwiegend schwarzer Bewohner, die allein 1990 in Chicago vorkamen, lassen sich sehr wohl zählen...
Soziale Explosion aber ist historisch überwiegend durch eher externe Organisationen bewirkt worden: durch die Medien, durch Drogen und vor allem durch staatliche und politische Gewalt. Wie erklärt sich aber die zunehmende soziale Implosion?
Manche meinen, dies habe mit dem veränderten sozioökonomischen Status des Ghettos zu tun. Das alte jüdische Ghetto und viele Ghettos der Dritten Welt hätten noch Reste ökonomischer Nützlichkeit aufrechterhalten – und sei es als marginales Arbeitskräftereservoir. Die neuen Ghettos in Nordamerika und zum Teil in Westeuropa besäßen aber diese Funktion nicht mehr.
Die sozialen Daten weisen in eine ähnliche Richtung. Nicht allein die hohen Arbeitslosenzahlen sind gemeint, sondern auch der immens hohe Anteil der Jugendlichen, der alleinerziehenden Mütter, der Sozialhilfeempfänger, der Kranken, der Rentenempfänger usw.
Nun haben wir aber in den industrialisierten europäischen Staaten keine Stadtbezirke mit über 95 Prozent Ausländern wie in den Vereinigten Staaten. Nur punktuell erreichen sie gerade mal 45 Prozent. Und so ergeben sich auch viele soziale Konfliktlinien in den westeuropäischen Ghettos eher aus den disparaten Lebenserwartungen von auf- und absteigenden Klassen als aus Konflikten kultureller, ethnischer oder rassischer Natur. Das amerikanische Ghetto, welches rassisch definiert ist, hat nicht nur andere Konfliktlinien, sondern natürlich auch eine gänzlich andere räumliche und soziale Dimension. In unseren Breitengraden betrifft die Ghettoisierung gerade mal einen Komplex mit 3.000 Familien in prekären Lebensverhältnissen; in Amerika sind es in einer Großstadt 300.000, und man fährt eine halbe Stunde durch die „zerbombte“ Stadt (Wacquant).
Wenn in Deutschland freilich an den rassistischen Explosionen offensichtlich nicht so sehr die ghettoisierte Stadt- und Vorstadtbevölkerung beteiligt ist, so wirft dies ein bezeichnendes Licht auf das ambivalente Verhalten von Mittelschichten und nicht so sehr auf die marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Das heißt, nicht erst hier gibt es Anlaß darüber nachzudenken, ob Ghettoisierungsprozesse nicht die gesamte Gesellschaft erfaßt haben.
Selbstghettoisierung – das totale Ghetto
Wenn verschiedene Bevölkerungsgruppen miteinander in Kontakt kommen, wählen sie in der Regel eine von zwei Siedlungsformen: entweder sie kommunizieren mehr oder weniger miteinander, z. B. über räumliche, ökonomische oder religiöse Organisationen, oder sie leben „nebeneinander her“ in relativ strikter Abschottung und Segregation. Quer zu diesen Siedlungsformen existieren in modernen Zeiten zwei Keile, die diese Verhältnisse grundlegend veränderten: die Drogen und die staatliche Intervention. Beide Keile potenzierten die Ausschließungsdynamik.
In den Vereinigten Staaten und Frankreich hat es in den 70er und 80er Jahren nicht nur eine allgemeine Segregation gegeben, es hat vielmehr eine kontinuierliche, staatlich begünstigte Ghettoisierung stattgefunden. Und wo dies nicht direkt möglich war, so indirekt durch Entzug von Infrastruktur oder Sozialhilfeleistungen usw.
Wie kommt es nun, daß – obwohl die ausländischen und sozial schwachen Bevölkerungsgruppen in Deutschland vielleicht weniger stark verelendet und segregiert sind als anderswo – das destruktive Potential buchstäblich mörderische Formen angenommen hat? Sind es überhaupt marginalisierte Bevölkerungsgruppen, die da zugeschlagen haben? Die geläufigen Antworten finde ich nicht sehr überzeugend: politische Uneindeutigkeit, Hoffnungslosigkeit in den fünf neuen Ländern usw. Außer oder neben diesen Gründen sehe ich andere entscheidende Faktoren:
1. Die gezielte politisch-staatliche Provokation, die sich nicht nur bei den Polizeiaktionen, sondern schon bei der Auswahl der Ansiedlungsorte zeigt;
2. Eine Form der medialen Vermittlung, die Ausgrenzungsund Diskriminierungsphänomene überhaupt erst produziert;
3. Ein Bündel von Ghettoisierungsfaktoren, die die ausländischen minoritären oder sozial schwachen Bevölkerungsgruppen betrafen – das reichte von rechtlichen Beschränkungen (Arbeitserlaubnis) bis zu den sozialräumlichen Normen im sozialen Wohnungsbau.
Und besonders wichtig:
4. Gesamtgesellschaftliche Ghettoisierungsfaktoren wie die strukturelle Verkleinerung der Familie, die gegenwärtig zum Ein- Personen-Haushalt tendiert, die wirksame Fesselung vereinzelter Personen an die Medien oder die zunehmend narzißtischen Tendenzen der jugendlichen Sozialisation.
Unser Argument also ist, daß man ohne Rekurs auf die gesamtgesellschaftlich laufenden Ghettoisierungsprozesse und ohne Rekurs auf Selbstghettoisierungsprozesse eine taugliche Analyse nicht mehr betreiben kann. Schlimmer noch: Jede Teilbetrachtung von Minoritäten schafft im Grunde nur eine neue Diskriminierung, bringt aber keine Erhellung.
In anderen Worten: Die Ausgrenzungsphänomene müssen zusammen mit den Eingrenzungsphänomenen gesehen werden, die ungeheuer destruktiven Tendenzen im Zusammenhang mit selbstdestruktiven Tendenzen, die Probleme der Teilbevölkerung im Gesamtzusammenhang der Gesellschaft als Ganzem.
Es ist freilich an der Zeit, die Zertrümmerung von Individuen, von Gruppen und von Ethnien in den Kontext der Atomisierung von Gesellschaft zu stellen. Das, was vor unseren Augen oft als unbegreiflich, irrational, autodestruktiv erscheint, kann so vielleicht wieder begriffen werden. Die narzißtischen Tendenzen, der soziale Autismus oder der soziale Kältetod, die inneren oder äußeren Gewaltformen, vor denen heute so viele erschrecken, werden damit natürlich nicht behoben sein. Wir fangen aber auch gerade erst an, die Sprache des Ghettos zu verstehen, sehen jetzt erst, daß wir ausschließlich einschließen, und daß wir selbst gefangen sind.
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