: Metropolis ist noch weit entfernt
■ Das fünfte Hamburger Architekturjahrbuch widmet sich dem Wohnungsbau und der Innenstadt Von Till Briegleb
Es ist keine fünf Jahre her, da empfand man sie lediglich als ein notwendiges Verkehrsübel, eine stinkende, graue und laute Trasse, gesäumt von drückenden Bürosolitären (mit rühmlichen Ausnahmen zweifellos) und niemand hätte sich ihr freiwillig genähert, außer, um schnell über sie hinwegzukommen. In ihrem Gesamtbild zerstückelt, in ihren Einzelteilen von oftmals monströser Häßlichkeit und völlig unentschieden in ihrem Charakter bot die Ost-West-Straße jahrelang ein geradezu jämmerliches Bild scheinbar stilloser Hamburger Stadtplanung. Lediglich Denkmalpfleger und Stadthistoriker warben stets für die Dramaturgie der durch die Reste der zerbombten Altstadt gebrochenen Tangente, die sich in vielen Auf- und Abtritten zeitgeschichtlich signifikanter Büroarchitektur entwickeln sollte; allein, sie erschloß sich niemandem.
Vom Reservat zur Galerie
Seit kurzem nun erlebt die Ost-West-Straße eine atmosphärische Häutung. Aus dem Reservat für Bürobauten der Nachkriegszeit schält sich plötzlich die architektonische Galerie, welche ihre Gründer sich gewünscht hatten und die die Aufmerksamkeit des Straßenmenschen gelegentlich bis zur Verkehrsgefährdung strapaziert. Paradoxerweise entwickelt sich dieser Eindruck mit den genau entgegengesetzten Mitteln, mit denen der Nachkriegs-Oberbaudirektor Werner Hebebrand, der eigentliche Erfinder der Ost-West-Straßen-Dramaturgie, denselben hervorrufen wollte. Nicht das Vor- und Zurücktreten des individuell gestalteten Solitärs, umgeben von braven Grünflächen und unbenutzten Fußwegen, also nicht die offene Form verleiht der Halsschlagader Hamburgs ihre neue pulsierende Attraktivität, sondern die homogene, geordnete Fluchtperspektive weckt die Neugier des Benutzers. Die Wölbern-Bank, das Herrengraben-Schnittchen, das Steigenberger-Hotel, der Kontorwürfel gegenüber, ein Stück weiter unten die Züricher Versicherung und der neue Dovenhof zeigen diesen Trend, die Fassade zur Straße hin direkt an die Grundstücksgrenze zu setzen und so das Boulevard- gegenüber dem Ausfallstraßen-Gefühl zu verstärken, deutlich auf. Auch auf den restlich verbliebenen freien Grundstücken, etwa nördlich des Deutschen Rings und am Meßberg, wird diesem Trend zur Urbanisierung gefolgt, der sich auch an den meisten anderen innerstädtischen Orten durchzusetzen scheint. Fleet- und Straßencanyons mittlerer Höhe werden zukünftig das Hamburger Innenstadtbild prägen.
Metropolis ist trotzdem noch weit entfernt. Provinzielle Bauklötzchenhäufungen wie beim Steigenberger, Elefantenarchitektur wie beim Überbau der Condorversicherung oder die unausrottbaren kleinmütigen Anleihen der Hamburger Architekten bei Schiffsmotiven (bis hin zu den schrankwandspießerhaften Bullaugen) sorgen neben der oftmals falschen Wahl des Steins (leberwurst- statt blaurot) für die Hamburger Club-Atmosphäre, die mit cosmopoliter Architektur rein garnichts zu tun hat. Doch man braucht sich nichts vorzumachen: Betrachtet man die Züricher Versicherung von Gerkan, Marg und Partner gegenüber der Condorversicherung oder den Neuen Dovenhof von Kleffel, Köhnholdt, Gundermann gegenüber der Erweiterung des Springerverlages an der Kaiser-Wilhelm-Straße, so muß man eingestehen, daß es hätte weit schlimmer kommen können.
Jährliche Standortbeschreibung
Daß die Ost-West-Straße mit ihren Seitenverzweigungen als aufdringlichstes Beispiel neuer Hamburger Baukultur auch einen zentralen Stellenwert im neuen, dem mittlerweile fünften Hamburger Architekturjahrbuch einnimmt, kann also nicht verwundern. Das von der Hamburgischen Architektenkammer herausgegebene Periodikum hat es sich zur Aufgabe gemacht, den jährlichen Stand der Hamburger Architektur kritisch zu beleuchten. In Porträts, Rezensionen neuer Gebäude, Interviews, Essays, Reportagen, beispielhaften Kurzkritiken und Betrachtungen zu in Planung befindlichen Bauvorhaben bieten die homogen gestalteten Jahrbücher dem Laien wie dem Fachmann reiches Material zum Architekturwesen und -unwesen der Hansestadt.
Dirk Meyhöfers „Ehrenrettung“ der Ost-West-Straße, aufsatzhaft gegliedert als „Ost-West-Site-Story“ mit drei Akten sowie Vor- und Nachspiel, verschenkt das Thema allerdings eher in selbstgefälligen Betrachtungen. Sinniger scheint es eh, man hätte mit der Würdigung gewartet, bis die Straße, an der ja noch rege gebaut wird, komplett ist und hätte sie dann zu einem eigenen Schwerpunkt in einem der nächsten Jahrbücher gemacht. So bleibt einem immerhin noch die Hoffnung auf ein demnächst in der Schriftenreihe des Hamburgischen Architekturarchivs erscheinende „Monografie“ über die Ost-West-Straße von Michael Wawoczny.
Der eigentliche Schwerpunkt des neuen „blauen“ Jahrbuchs ist dem Wohnungsbau gewidmet. Allerdings nicht den Stadtverunreinigungen durch den sozialen Wohnungsbau, der in totaler Traditions-Amnesie Sanierungsgebiete als Lagerstätten sauber verpackter Privatsphäre behandelt, sondern einem anderen Ungeist, der gerade Mode macht: der Verkleingeistigung der Metropole durch Zersiedelung. Klaus-Dieter Weiß stöbert in Hamburgs neuen Stadterweiterungsmaßnahmen den planerischen Gartenzwerg auf und bringt ihn mal sarkastisch, mal historisch argumentierend zur Strecke. Die Sucht nach putzigen Siedlungen und Wohnburgen in Gartenstädten, die sich an allen inner- und außerstädtischen Neubaugebieten durchsetzt (Farmsen, Allermöhe, Kirchdorf, Neugraben oder Finkenwerder) wird als spießige Nieschenkultur entlarvt und mit konstruktiven Vorschlägen zur Stadtentwicklung konfrontiert.
Freundlich sozialdemokratisch
Diese Bissigkeit hätte man sich auf der Fragerseite auch für das Gespräch mit Stadtentwicklungssenatorin Traute Müller gewünscht. Doch stattdessen verhalten sich Hamburgs renomierte Architekturkritiker Manfred Sack, Inge Maisch und Dirk Meyhöfer als Stichwortgeber für die freundliche Frau Müller, die auch alles ordentlich sozialdemokratisch beantworten kann. Zentrales Statement von Hamburgs höchster Stadtplanerin: „Heute sind wir nicht sehr experimentierfreudig.“ So kann man halbseidene Konzepte auch umschreiben.
Auffällt, daß wirklich herausragende Architektur im letzten Jahr scheinbar nicht zuwege gebracht wurde. Oder wie soll man es verstehen, daß die Titelgeschichte dem neuen Englandanleger gewidmet ist, der wie angeschwemmt und hinterm Straßenstrich liegengeblieben dreinschaut wie ein verunglücktes architektonisches Genexperiment (was ihm der Rezensent Gert Kähler auch ganz freimütig zuweist, Titel: „Muschel ohne Perle“). Und warum die neue Fleetinselbebauung, immerhin ein diskussionswürdiger Beitrag der Schaffung eines großstädtischen Raumes und zudem an einer so prädestinierten Stelle, in dem Jahrbuch überhaupt nicht vorkommt, verwundert doch auch ein wenig.
Gegenüber den vorherigen Bänden ist das 93er Jahrbuch weit kleinteiliger ausgefallen. Neben der alljährlichen Kurzvorstellung bemerkenswerter neuer Baukörper bietet es diesmal zwei weitere Beispielsammlungen: zu neuen Kontorhäusern und zu außergewöhnlicher Wohnarchitektur. Bei letzterer kann man gelegentlich jenen gestalterischen Mut entdecken, der dem Büro-Mainstream doch überwiegend fehlt, und über den man sich auch längere Artikel hätte vorstellen können. Porträts der Zeisehallen, der neuen Ladehalle der Bavaria-Brauerei in St. Pauli, des oben erwähnten Ost-West-Hofes, der die Wölbern-Bank beherbergt, des Doormannhauses in der ABC-Straße und des Innnenausbaus der Vereins- und Westbank-Zentrale runden den Rezensionsteil ab.
Ausdrücklich gelobt werden muß (auch wenn es nach Stallhilfe riecht) die Reportage von Florian Marten, im bürgerlichen Leben taz-Redakteur, über St. Pauli. Neben Klaus-Dieter Weiß' Analyse ist diese unterhaltsam geschriebene und dennoch höchst informative Hommage an einen schwer zu bändigenden Stadtteil der journalistische Höhepunkt dieses Jahrbuchs. Das Porträt eines Hamburger Architektenbüros beschäftigt sich diesmal mit Gerkan, Marg und Partner, wobei man zwischen vielen langen Ausflügen in die Baugeschichte von Werner Oechslin über das Büro erklecklich wenig erfährt.
Wenig dringliche Würdigung
Gartenarchitekt Gustav Lüttge, dem Gestalter des Alsterparks, und einem 1922 in die USA emigrierten Karl-Schneider-Zeitgenossen (Jakob Detlef Peters) sind weitere Porträts gewidmet. An seiner Stelle fielen einem allerdings eine Menge anderer Hamburger Architekten ein, auf deren Biografie man weit neugieriger wäre oder die im Gegensatz zu Peters wenigstens einige prägnante Spuren in der Stadt hinterlassen haben. Schneider selbst, der ja in seinem Jubiläumsjahr soviel öffentliches Interesse geweckt hat, wie lange kein Baukünstler vor ihm, ist mit dem Renovierungsbericht der Farmsener Turnhalle qua Objekt vertreten.
Eine späte Würdigung der Terrassenhäuser von Ingeborg und Friedrich Spenglin an der Holsteiner Chaussee (gebaut 1966-68) erscheint als eine der wenigen unorthodoxen Ideen dieses Jahrbuchs zum Weiterspinnen empfohlen. Architektur nach einem Vierteljahrhundert der Benutzung qualitativ zu untersuchen, sagt oft weit mehr über lokale Baukultur aus, als die feuilletonistische Kritik zeitgenössischer Bauten.
Etwas mehr Kontorhausgeist
Insgesamt wirkt dieses fünfte Jahrbuch zu routiniert sowohl bei Text wie bei Gestaltung. Daß man glatte Architektur auch noch durchgängig glatt ablichten muß, zeugt nicht eben von ästhetischer Streitkultur. Und zumindest gelegentlich aufmüpfige Autoren wie Gert Kähler oder Manfred Sack (der in seinen Artikeln diese erfrischende Frechheit besitzt, die ihm als Frager so völlig abgeht, der aber in diesem Jahrbuch als Autor gar nicht vorkommt) werden zugunsten von braver fachlicher Meinungsäußerung in den Hintergrund gedrängt.
Eine Portion mehr hemdsärmeligen Kontorhausgeistes und stilistischen Fernwehs täten dieser wichtigsten Hamburger Architekturpublikation wohl gut. Oder um es mit Hamburgs Godfather of Architecture Fritz Schumacher zu sagen: „Umso eigenartiger eine Stadt ist, umso mehr wird man den Schlüssel zu ihrer Behandlung in dieser Eigenart suchen müssen.“ Und daß Hamburg eine eigenartige Stadt ist, das kann doch wohl niemand bestreiten.
Architektur in Hamburg 1993, Junius Verlag, 184 Seiten, 58 Mark
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