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Mein Wannsee

Über die Schwierigkeit, anzukommen. Eine vorsichtige Annäherung  ■ Von Marko Martin

Mein Wannsee begann in Sachsen und ist als eine Zickzacklinie von Geschichten vorstellbar, von denen keineswegs sicher war, ob sie einmal in das wirkliche Gewässer im Süden Berlins würden einlaufen können. Am Anfang standen die Bilder, etwas später dann die Ideen; Trockenschwimmversuche allesamt, die sich mit dem verbotenen Wasser nicht naß machen durften.

Zuerst, natürlich, war das Lied da: „Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein, und dann nichts wie raus zum Wannsee.“

Im Bücherschrank meiner Urgroßeltern fand ich die passenden Fotografien dazu, Frauen mit Bubiköpfen, die aus Holzkabinen treten, über die Planken laufen und ins Wasser springen. Die Badeanzüge, das Wasser und der Himmel sind nicht schwarzweiß, sondern gelblich braun.

Die Fotos waren in den vergilbten Nummern einer geographischen Zeitschrift abgedruckt, deren buntes Titelbild für exotische Gegenden warb. Jahrgang 1935. Der Finger meines Urgroßvaters auf dem Blatt: „Hier drin hab' ich damals die Broschüren von Rosa Luxemburg versteckt.“ Er lachte. „Und den Sohn dann zur HJ laufen lassen.“ Das war die Urgroßmutter. Die Tür zur Küche war offen geblieben, und da stand sie nun mit ihrer Kochschürze und schüttelte den Kopf.

Urgroßvaters letzter Versuch, mit einem aufmunternden Seitenblick zu mir: „Und was ist mit den Sachen, wo sie schon 1918 den Lenin kritisiert hat?“ „Die hast du 1953 verbrennen müssen.“ Sie ging zurück in die Küche und schimpfte dort weiter: „Laß den politischen Kram endlich. Hör auf damit, und laß den Jungen in Ruh!“

Der Urgroßvater kicherte und zeigte einen Vogel in Richtung Küche. Ich verstand nichts und sah mir weiter die Wannsee-Frauen auf den Bildern an; schön, sehr schön waren sie. So sind sie also dort, dort am Wannsee irgendwo. So fern, so schön.

Dabei lag mein Mini-Wannsee direkt vor der Tür, ein „Großer Teich“ genannter kleiner Teich in Limbach-Oberfrohna/Sachsen. Samstag früh Lord Knud im RIAS hören, nachmittags mit dem Fahrrad zum Wasser. Auch dort gab es Holzbaracken, die weiße Farbe daran blätterte seit Jahren ab, dafür kostete der Eintritt nur fünfzig Pfennig, und die russische Soljanka zur sächsischen Faßbrause im Imbißhäuschen war auch nicht teuer. Was aber war wirklich der Preis? Ein Leben im Wartezustand, eine selbstgenügsame Als-ob-Existenz. Nicht soviel spinnen. In der DDR war Geographie eine utopische Wissenschaft. Wannsee war ein Name für so vieles: Dort anzukommen würde voraussetzen, daß man den Betonwall, die Hundelaufstreifen und Minenfelder lebendig hinter sich gebracht hatte und auch die zivilere Variante, das Schreien in den Befragungszimmern und die Niedergeschlagenheit über abermals abgelehnte Ausreiseanträge überstanden hatte, ohne verrückt zu werden.

Dann aber, Leute, dann würde die Post abgehen! Dann hatte man's geschafft fürs ganze weitere Leben.

Wir lagen am Strand in Grünheide und schmiedeten Pläne. S. würde heiraten. M. eine Lehre beginnen, und B. spielte geistesabwesend mit dem Tennisschläger. Ich wußte, daß ich weggehen würde. Ein leises und eindringliches Reden über Gehen und Bleiben, über Illusionen und elende Realitäten. Ich hätte jubeln können; noch einige Zeit, und ich würde gar nicht weit von hier schwimmen gehen. Eine Jordantaufe inmitten preußischer Kiefernwälder, eine ganz neue Existenz.

Bockwurststände und Westberliner Luft-Symbole für die törichte Vorstellung einer Schutz und Freiheit verheißenden Gegend, die in ihrer Abgeschlossenheit ja noch immer dem verhaftet blieb, was man angeblich schon längst hinter sich gelassen hatte. Ein Privileg wäre das, doppelt intensiv erlebt im Bewußtsein, etwas ganz Besonderes darzustellen: Die anderen, die Zurückgebliebenen, mußten den Genuß entbehren.

Und natürlich die schweißgebadete Befreiung, die jeder erlebte Morgen im Westen versprach, dem eine Nacht vorangegangen war, in der man träumte, wieder drüben zu sein.

Ich landete im bundesdeutschen Südwesten, konnte einen Sommer lang den unkomplizierten Grenzübertritt per Rad in die Schweiz genießen, um im Rhein zu baden – aber der Wannsee, das wahre Symbol eines anderen Lebens, war das nicht.

Als ich ihn dann zum ersten Mal wirklich sah, war die Mauer längst gefallen. Die herbeigesehnte Befreiung bei gleichzeitiger Fortdauer des als beängstigend Erlebten im Hintergrund fiel buchstäblich ins Wasser. Was waren nun Wannsee und Westen ohne Mauer und Osten?

Die S-Bahn stürzte ab Humboldthain nicht in ein düsteres Loch, sondern verschwand ab Nordbahnhof einfach für einige Stationen unter Tage, um dann an der Yorckstraße wieder aufzutauchen. Das ist dann schon die zweite Station im Westen, unterwegs wurde niemand aus dem Zug geholt, nur die Status-quo-Stimmung des Hier-und-Dort hatte sich unauffällig verabschiedet. Anfangs hätte man heulen können vor soviel Gegenwart. Die üble Vergangenheit hatte sich ganz einfach aufgelöst, zumindest ihre sichtbarsten Markierungspunkte waren weg. Das verstörte im ersten Moment, die Ankunft im Leben gestaltete sich ebenso brutal wie später befreiend.

Jetzt gab es kein Wegmogeln, keine Vergleichsspielchen mehr. Das Fremdfühlen als Attitüde war über Nacht zum Auslaufmodell geworden. Demokratisierung einer Landschaft – für eine mit dem totalitären Hieb versehene Ossi-Seele schwer zu akzeptieren.

Was wollen alle diese Ostberliner in der Bahn, weshalb steigen sie in Nikolassee aus, schlendern den Waldweg entlang, lösen ihre Eintrittskarte am roten Backsteinhäuschen des Wannsee-Bades? Haben die ein Recht darauf? Der Zorn darüber war natürlich alles andere als souverän und in seiner enttäuschten Hoffnung auf ausgleichende Ungerechtigkeit nichts weniger als typisch ostdeutsch. Das Individuum bekommt seinen Wert erst durch den Vergleich mit anderen; nichts da von „Eigenwert“ und anderen westlichen Verstiegenheiten. Langsam aber hat man sie doch gelernt.

Der Wannsee ist vom Symbol endlich wieder zum See geworden, der eher Erfrischung als Erweckung liefert. Und die Erkenntnis: Auch hier wird nur in Wasser geschwommen.

Da gibt es schwabbelige Bäuche, Strandkorbfeldwebel, Papierfetzen in den Sträuchern oder Bierdosen im Sand, junge Frauen, sehr schön, sehr nah und ungeheuer eingebildet, kalt und fern. Überraschen konnte das nur den, der einen typischen Zugriff auf früher Verbotenes unternahm: die streng verordnete Distanz durch ein ebenso intensives Gefühl überwinden wollen – das gehört mir, das hier will ich kennenlernen. Dann kommt die Enttäuschung. Wie anders als mit enttäuschter Liebe sollte auch das jetzige östliche Ressentiment gegenüber dem Westen zu erklären sein?

Die einzige Medizin dagegen wird wohl im Daliegen zu finden sein. Arme hinter dem Kopf verschränkt, Augen hoch zum Sommerhimmel (auf mögliche Regenschauer immer achten!) oder die weißen Boote und das grüne Ufer am See betrachten. Was für einen Westler eher abwegige Gedankenakrobatik ist, ist für den Ostler das Überwinden einer riesigen inneren Entfernung, um hier anzukommen. Locker, immer mit dem Scheitern rechnend, spöttisch und eigentlich absolut nicht unzufrieden.

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