■ Die Liste, das Amt, der Aids-Blutskandal und der Minister: Aufklärung statt Hysterie
„Aids-Panik!“, „Aids-Schock!“, „Blutkonserven verseucht!“, „Aids-Blutstropfen bringt Faß zum Überlaufen!“. Die Schlagzeilenmaschine arbeitet auf Hochtouren, und man gewinnt den Eindruck, die seit vielen Jahren bekannte Infektion vieler Bluter und Transfusionsempfänger mit dem Aids-Virus HIV sei soeben erst enthüllt worden, nachdem die Schurken im Bundesgesundheitsamt jahrelang alles verschleiert haben. Mit einer beispiellosen Hysterie reagiert die Öffentlichkeit auf den Blut-Aids-Skandal, ohne die eigentlich skandalösen Vorgänge zu thematisieren. Es gibt in Deutschland nicht 373 HIV-Infektionen durch verseuchtes Blut, sondern weit mehr als 2.000. Diese Fälle werden regelmäßig dokumentiert und sind für jedermann einsehbar. Jeder, der sich die Mühe macht, hätte sich umstandslos über das Ausmaß der Epidemie unter Blutern informieren können. Auch der Minister. Das Aids-Fallregister des Bundesgesundheitsamts und die ebenfalls seit langem erhobene Statistik aller anonym gemeldeten HIV-Infektionen führt die Gesamtheit der bekanntgewordenen Fälle auf. Auch die Zahl der inzwischen gestorbenen 400 Blut-Aids- Patienten ist bekannt. Das Problem ist nur: Bis Minister Seehofer am Dienstag seine Bombe zündete und die BGA-Spitze feuerte, hat sich kein Mensch für diese Zahlen und für das Schicksal der Blut-Aids-Patienten interessiert.
Die Geheimliste mit den 373 Fällen ist also alles andere als geheim, neu oder sensationell. Sie ist nur ein Ausschnitt der lange bekannten Aids-Wirklichkeit bei Blutpatienten. Weil sie nur diejenigen Fälle dokumentiert, in denen der Verdacht auf eine HIV-Infektion dem BGA-Arzneimittelinstitut auf formalem Weg gemeldet wurde, ist sie unvollständig und enthält längst nicht alle aufgetretenen Infektionen.
Die Verantwortung für die Desorientierung der Öffentlichkeit und für die Hysterie der Medien trägt Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU), einer der wenigen verbliebenen, – bislang – fähigen Minister der Regierung Kohl. Seehofer, der seit langem mit der Berliner Behörde im Clinch liegt und dafür auch viele gute Gründe hat, hat den falschen Anlaß gewählt, um im Berliner Augiasstall auszumisten. Nicht die mysteriöse Geheimliste ist der Skandal, sondern die Anfang und Mitte der 80er Jahre zu spät erfolgte Reaktion des Amtes auf den Einbruch der Aids-Krise. Aber darum hat sich Seehofer nie gekümmert. An diesem Punkt hat er seinen Beamten stets den Rücken gestärkt. Der jetzt geschaßte Aufsichtsbeamte für das BGA im Bonner Ministerium, Manfred Steinbach, war für die verspätete Reaktion Mitte der 80er Jahre mitverantwortlich. Es entbehrt nicht der Komik, daß Steinbach jetzt wegen einer vergleichsweise harmlosen Informationspanne gehen mußte. Gerechtigkeit durch die Hintertüre?
Nicht weniger skandalös als die Nicht-Aids-Politik des BGA in der Frühphase der Infektion sind die bisherigen Entschädigungsregelungen für die Betroffenen und Hinterbliebenen. Auch hier ist Seehofer gefordert. Die Betroffenen mußten bisher mit den Pharmafirmen in Einzelverhandlungen um wenige tausend Mark feilschen. Das bewilligte Geld reichte dann oft gerademal für die Beerdigungskosten, viele Kranke haben die Zahlung nicht einmal erlebt. Die Einrichtung eines nationalen Hilfsfonds mit großzügigen Regelungen wäre das Mindeste, was getan werden müßte.
Es gibt eigentlich keinen Grund, gerade das Bundesgesundheitsamt in Schutz zu nehmen. Die Mängel- und Mauschelliste der Behörde (Dioxin, Holzschutzmittel, Formaldehyd, Diesel-Rußpartikel, Gentechnik) ist bekannt, und ebenso offensichtlich ist, daß ihr langjähriger Chef, Dieter Großklaus, nicht gerade zu den Dynamikern zählt. Dennoch: Man kann der Behörde vieles vorwerfen, aber das Ausmaß der Aids- Epidemie unter Blutern und Transfusionsempfängern hat sie bisher korrekt wiedergegeben. Die viel wichtigere Frage wäre aber, ob sie in der Vergangenheit auch genug getan hat, um dieses Ausmaß so klein wie möglich zu halten.
Um dies zu klären, wäre es notwendig, den gesamten Blut-Aids-Skandal noch einmal aufzurollen. Darauf hoffen die Betroffenen, und dies wäre man den mehr als 2.000 Opfern auch schuldig, die sich bisher über Blut und Blutprodukte mit dem Virus angesteckt haben. Es geht hier nicht um eine beliebige weitere Behörden-Panne, sondern um die Frage, ob Menschen die Versäumnisse einer verschnarchten Behörde mit ihrem Leben bezahlen mußten und müssen. Auch wenn in der Bundesrepublik keine französischen Verhältnisse herrschten, sind die Unterlassungen und Fehler der Verantwortlichen doch erheblich. Sie aufzudecken könnte nur ein Untersuchungsausschuß leisten oder ein großes Gerichtsverfahren, wie es jetzt vom Vorsitzenden der Interessengemeinschaft Hämophiler, Winfried Breuer, durch seine Klage gegen die Bundesregierung angestrengt wird.
Daß die Aufarbeitung des Blut-Aids-Skandals bisher nicht stattgefunden hat, liegt auch an den Betroffenen selbst. In den vergangenen Jahren haben die Bluter- und Transfusionspatienten ihre Interessen nur sehr schwach und reserviert wahrgenommen. Aus Angst vor Diskriminierung werden Aids und HIV gerade in dieser Gruppe noch immer häufig verschwiegen. Dahinter verbirgt sich oft der heimliche Wunsch, mit Schwulen oder Fixern nicht in einen Topf geworfen zu werden. Ein offensiveres Auftreten wäre ebenso notwendig wie die Einsicht, daß es auch bei Aids keine guten und schlechten, keine schuldigen und unschuldigen Patienten gibt.
Bundesgesundheitsminister Seehofer hat mit seinem harten Durchgreifen in ein Wespennest gestochen. Die Diskussion um die „Liste“ mit ihren 373 Fällen kann nur ein Anfang sein. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Aufarbeitung der größten Pharmakatastrophe seit der Contergan-Affäre. Seehofer hätte das Zeug, sich dieser Aufgabe zu stellen. Doch es ist zu befürchten, daß er es bei seinem Revirement beläßt und die Chance zur Klärung verspielt. Manfred Kriener
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