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Ich laufe meilenweit für eine Briefmarke

Warum ein Besuch im Postamt den Kreislauf auf Touren bringt und fürs Leben stählt / Die Post verordnet den Berlinern künftig mehr Bewegung: Siebzehn Postämter werden geschlossen  ■ Von Vera Gaserow

Wenn mir mal so richtig langweilig im Bauch ist und mein Kreislauf einen Adrenalinstoß braucht, dann steuere ich die linientreueste aller realsozialistischen Bastionen an. Schon der Anblick des gelben Schildes läßt das Herz schneller schlagen, der Blutdruck steigt in sportliche Höhen: mein Postamt! Mein Postamt ist ein kleines Postamt. Keines von diesen schmucken, weitläufigen Klinkerensemblen aus der Ära, da die Deutsche Bundespost noch mit einem Bevölkerungswachstum von 500 Prozent rechnete und in dem Irrglauben war, ihre Besucher seien Kunden und nicht lästige Bittsteller um eine 80-Pfennig- Briefmarke oder einen Überweisungsschein. Nein, mein Postamt ist eher eines von der mickrigen, schmuddeligen Sorte – spätestens seit Berliner Blockadezeiten nicht mehr renoviert und mit der unnachahmlichen Duftnote von jahrzehntealtem Linoleum und täglich aktualisierten Körperausdünstungen. Mein Postamt ist keines, wo von zwölf Schaltern sieben notorisch nicht besetzt sind. Mein Postamt hat ja nur sechs – aber da lauert immerhin hinter dreien das gefürchtete „Vorübergehend geschlossen“.

Das hat den ungemeinen Vorteil, daß man hier seinem Nachbarn noch so richtig nahekommen kann. Bauch an Rücken übt man sich in der Feldstudie einer vom Aussterben bedrohten Spezies Mensch: des gemeinen deutschen Schalterbeamten. Wie akkurat er Schwämmchen und Stifte ordnen kann! Mit welch atemberaubender Schneckenhaftigkeit er nach Überweisungsformularen langt! Wie filigran er die handgeschriebenen Zahlenkolonnen auf dem Auszahlungsblock drapiert! Nirgendwo anders findet man seinesgleichen. Und dann die Kunst der wohlgesetzten Pause: Wenn die Schlange vor dem Schalter gerade am längsten ist, das Schildchen gezückt und mit einem triumphierenden Blick durch die Glasscheibe getrumpft „Vorübergehend geschlossen“ – Stammkunden wissen, daß „vorübergehend“ in der Postsprache „Stunden“ heißt.

Spätestens dann ist der Zeitpunkt gekommen, wo Mütter mit nölenden Kleinkindern aus der Schlange ausscheren, um unverrichteter Dinge den Heimweg anzutreten und hypotonierende Männer mit hochroten Köpfen ein „Jetzt reicht's aber!“ ausstoßen. Ich aber liebe diese Momente. Mein Kreislauf braucht diesen Kitzel: Welche Steigerung hat mein Postamt heute noch zu bieten?

Dann, endlich, die Begegnung Aug um Aug, mein Postbeamter und ich. Ein Mann mit dem unnachahmlichen Charme eines realsozialistischen Speisegaststättenkellners: „Zehn 40-Pfennig-Briefmarken, bitte.“ „Wat wolln Se?“ „40-Pfennig-Briefmarken.“ „Ham wer nich.“ „Aber wieso nicht?“ „Sind alle, müssen Se zum Nachbarschalter gehn.“ „Dann kann Ihnen doch Ihr Kollege welche geben.“ „Jeht nich.“ „Aber das ist doch nur ein Griff.“ „Wozu brauchen Se die Vierziger denn überhaupt?“ „Ich möchte bitte schön auf der Stelle 40-Pfennig-Briefmarken!“ „Wozu?“ „Das geht Sie gar nichts an!“ „Denn ebend nich. Wenn's Ihnen hier nich paßt, gehn Se doch woanders hin!“ Spätestens dann weiß ich: Mein Besuch auf dem Postamt hat sich wieder gelohnt: Der Kreislauf ist auf Touren, die Nackenhaare sind aufgestellt. Das stählt fürs Leben.

Zugegeben, für Menschen mit hohem Blutdruck, also für die Mehrheit unserer Gesellschaft, eignet sich ein Besuch im Postamt nicht. Er stellt sogar ein erhebliches Gesundheitsrisiko dar. Wohl deshalb auch teilt der Postdienst nun in einem Schreiben seinen „Kundinnen und Kunden“ mit, daß dieses Risko per 31. 10. 93 drastisch gesenkt wird: Siebzehn Berliner Postämter werden geschlossen, in meinem Bezirk sind es gleich zwei. Die offizielle Begründung lautet: „Die Nachfrage nach Schalterdienstleistungen ist in den letzten fünf Jahren um über 30 Prozent zurückgegangen.“ Aber wer die Schlangen an den Schaltern kennt, weiß, daß dies nur ein vorgeschobenes Argument zur Verschleierung der therapeutischen Absicht ist. Es geht um mehr Bewegung: Nicht umsonst wirbt die Post mit einer neuen Jogging- Strecke: „Unter Umständen kommen mit der Schließung dieser Filiale etwas weitere Wege auf Sie zu.“ Nie mehr als zwei Kilometer seien es zum nächsten Postamt, versichert der Herr von der Pressestelle der Oberpostdirektion, jemand Verantwortliches mit einem Rädchen habe eigens die verschiedenen Wegstrecken abgemessen. Und ein kleiner Spaziergang belebt, er erfrischt Herz und Lunge. Besonders meine 86jährige Nachbarin ist begeistert von der Parole: „Ich laufe meilenweit für einen Einschreibebrief.“ Außerdem: Es gibt schließlich auch öffentliche Verkehrsmittel: Für eine Achtzig- Pfennig-Briefmarke zweimal umsteigen wird ja wohl noch drin sein. Und die besondere Freude, der rote Benachrichtigungszettel für die Auslösung des Geburtstagspäckchens, wird einem – mit Hin- und Rückweg – ja wohl noch 50 Minuten Fahrtzeit wert sein!

Da mag man an jeder zweiten Straßenecke italienischen Parmaschinken kaufen können, innerhalb von fünf Minuten sechs verschiedene Sorten Früchtemilchreis erstehen oder in jedem x-beliebigen Kaufhaus in fünfhundert Meter Entfernung grüne, blaue oder karierte Schnürsenkel erwerben – nein, so leicht will es uns die Deutsche Bundespost nicht machen. Schließlich war es schon immer etwas Besonderes, eine Briefmarke zu besitzen.

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