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Verfolgt, vergessen, verarmt

Bis heute keine Entschädigung für die Überlebenden von Ghetto und KZ in Lettland / Die Geschichte wird weiter verdrängt  ■ Aus Riga Anita Kugler

In Riga ist es wieder mild geworden, mitten im Oktober. Die Menschen atmen auf, sind glücklich über die kleine Schonfrist, die ihnen der Winter gewährt. Denn Wärme wird in diesem Jahr besonders teuer, Lettland muß mit den Gasreserven auskommen, die noch vom letzten Jahr übrig sind. Und so erwarten alle bangend den Frost, vor allem die Alten, die mit der Mindestrente von 15 Lat auskommen müssen. Das sind etwa 45 Mark und entspricht dem amtlichen Existenzminimum von 1991. Aber inzwischen haben sich die Preise versechsfacht.

Je 15 Lat bekommen Abraham Gerson und seine Frau Esther. Seit 40 Jahren wohnen die beiden in einer Einzimmerwohnung in der Brivibas Nummer 90, der jugendstilgeschmückten Hauptstraße, die vom Freiheitsdenkmal kilometerlang nach Norden führt. Abraham Gerson, von Beruf Kürschner, hat seit Monaten kein einziges Mal die Wohnung verlassen, er ist krank, an Rücken und Herz. Jetzt leidet er zudem an den Folgen einer verschleppten Augenentzündung. Wenn er, in seinem Lehnstuhl sitzend, aus dem Fenster schaut, hört er unter sich reges Marktleben. Denn im Hinterhof der Brivibas Nummer 90 befindet sich einer der beiden Stadtmärkte von Riga. Seit einem Jahr quillt er vor Waren fast über. Alles gibt es dort, Obst, Milch, Butter und sogar Käse im Überfluß. Aber das Ehepaar Gerson kann sich den Segen nicht leisten. Denn von den 30 Lat Einkommen müssen 10 Lat für die Miete abgezwackt werden und viele Lat für Medikamente, die der Staat nicht mehr übernimmt.

Einen Lebensabend ohne Angst vor dem nächsten Tag könnten die beiden über Siebzigjährigen verbringen, wenn die Bundesregierung die nationalsozialistischen Verbrechen in Lettland nicht nur bedauern, sondern, soweit dies mit Geld überhaupt zu machen ist, auch entschädigen würde. Denn Abraham Gerson gehört zu den etwa 300 Juden, die den Holocaust in Lettland überstanden haben. Von diesen sogenannten survivers leben heute nur noch 117. Seine Frau, ebenfalls Jüdin, wurde eine Woche vor dem Einmarsch der Wehrmacht im Juni 1941 von KGB-Kommissaren nach Sibirien deportiert. In den Lagern des Archipels Gulag erfroren viele, aber gemessen am Terror in Lettland hatte sie Glück.

Auch Abraham Gerson hatte Glück, denn er überlebte, und dies war nur eine Frage des Zufalls. Erst entkam er den lettischen „Judenschießern“, die im vorauseilenden Gehorsam wenige Tage nach dem deutschen Einmarsch ein Blutbad auf dem Lande veranstalteten. Und dann überlebte er die Räumung des Ghettos von Riga. Bei den Massakern in den Wäldern von Rumbula und Biekernicki am 29. November und 8. Dezember 1941 erschossen deutsche Einsatztruppen mit Zutreiberhilfe von einheimischen Faschisten 32.000 lettische Juden. Männer, Frauen, Kinder und Säuglinge. Denn das Ghetto in der sogenannten Moskauer Vorstadt von Riga sollte „frei“ gemacht werden für die vielen tausend deutschen und tschechischen Juden aus Berlin, Leipzig, Lübeck, Hannover, Westfalen, dem Rheinland, aus Wien und Prag. Von Abraham Gersons großer Familie ist außer ihm niemand übriggeblieben.

Der damals kräftige Mann wurde bei den Selektionen beiseite gewinkt und als „Arbeitsjude“ in das sogenannte Kleine Ghetto gebracht. Das war ein mit Stacheldraht umwehrtes Häuserviereck, speziell für die übriggebliebenen einheimischen Juden. Im Juli 1943 gelang es Abraham Gerson, von einem Arbeitskommando zu flüchten. Die nächsten 15 Monate, bis zur Befreiung durch die Rote Armee, hauste er in einem Kellerversteck mitten in Riga, ernährt von einem russischen Hausmeister. Als er dort herauskam, war er ein alter Mann.

„Warum vergißt uns Deutschland?“ fragt Abraham Gerson. „Warum bekommen wir nicht ein wenig Rente?“ Die Antwort ist ganz einfach und schrecklich bürokratisch. Nach dem Bundesentschädigungsgesetz bekommen nur die Opfer des Holocaust sogenannte Wiedergutmachungszahlungen, die einen entsprechenden Antrag vor 1965 gestellt haben. Für eine „Wiedergutmachung“ gebe es heute „keine Rechtsgrundlage“, begründeten Bonner Ministerialbeamte ihre ablehnenden Bescheide gegenüber einer Vielzahl von Gesuchen aus Riga. Die gleiche Antwort erhielten Delegationen aus Litauen und Estland. Auch dort leben noch 152 beziehungsweise 18 Juden, die Ghetto, KZ und Zwangsarbeit überlebt haben. Insgesamt also im ganzen Baltikum 290 Menschen von einer einstigen jüdischen Population von über 300.000.

Bei ihrem letzten Besuch in Riga, im Mai, hat Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth versprochen, sich um eine Gesetzesänderung zu bemühen. Bis jetzt ist nichts passiert. Heute ist Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf Staatsbesuch in Riga. Das Thema „Wiedergutmachung“ steht nicht einmal auf der Tagesordnung. Und seine Referenten werden, wenn überraschend doch darauf angesprochen, genau wie Rita Süssmuths Referenten zuvor auf die „humanitäre Aktion“ des baden- württembergischen CDU-Abgeordneten Wolfgang von Stetten verweisen. Denn dieser – ein Freiherr deutsch-baltischer Abstammung – überweist seit dem Sommer jedem ehemaligen jüdischem Häftling in den drei Ländern monatlich 30 Mark, das Geld bettelt er sich bei Sponsoren zusammen. „Ich bin kein Wiedergutmachungsfetischist“, sagte er neulich der Südwestpresse, „aber die Juden im Baltikum sind die Ärmsten der Armen.“

Die Verteilung dieses Geldes übernimmt in Lettland die „Vereinigung der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge“. Sie wurde erst nach der Unabhängigkeit gegründet, denn während der Sowjetherrschaft gehörte der Holocaust zu den vom Kreml tabuisierten Themen. Die rassistische Dimension des Völkermordes mußte verschwiegen werden. Vorstandsmitglieder der Selbsthilfeorganisation sind unter anderem Margers Vestermanis, Historiker und Gründer des „Jüdischen Dokumentationszentrums“, und Jewgenij Salzman, Arzt, Psychoanalytiker und Leiter der Vereinigung lettischer Kinderpsychiater.

Jewgenij Salzman ist der einzige Mediziner im ganzen Baltikum, der sich mit den traumatischen Spätfolgen von Konzentrationslager und Gulag beschäftigt. Er weiß, wovon er redet. Denn er hat beides selbst erlebt, ein in Lettland nicht einmal sehr ungewöhnliches Schicksal. Als 16jähriger kam er ins Ghetto von Riga, später als „Arbeitsjude“ in das KZ Kaiserwald, angefordert vom Truppen- Wirtschaftslager der Waffen-SS. Als die Rote Armee gen Riga rückte, evakuierten ihn die Nazis nach Stutthof. Dieses Konzentrationslager befreiten die Sowjets Anfang März 1945. Eine Befreiung, die für den lettischen Juden keine war. Denn als ehemaligen Sowjetbürger – schließlich war das Land 1940 besetzt worden – zwangen sie ihn als Soldaten an die Front. Und mit dieser rückte er bis nach Breslau vor.

Als der Krieg im Mai endlich zu Ende war, flüchtete er Richtung Westen, Amerika war das Ziel. Bis dorthin ist er nie gekommen, dafür in das Lager für Displaced Persons in Berlin-Schlachtensee. Bei einem Schwarzhandel mit sowjetischen Offizieren lief er in eine Falle und wurde als Deserteur in das Militärgefängnis von Potsdam eingeliefert. Den Mann, der vier Jahre Ghetto und Konzentrationslager gerade überlebt hatte, verurteilten die Befreier zu zehn Jahren Gulag. Bis 1953 verlegte er Eisenbahnschienen nordöstlich von Workuta, auf der berühmten „Straße des Todes“.

„Es gibt einen Unterschied zwischen KZ und Gulag“, sagt Salzman, „dem Gulag kann man entrinnen, wenn das System erkannt und der Überlebenswille vorhanden ist.“ Aber die psychischen Folgen seien dieselben. Weil der Holocaust und alles Jüdische während der Sowjetherrschaft verschwiegen wurden und jeder Mensch, der den Gulag kannte, als „Politischer“ stigmatisiert blieb, reagierten die Überlebenden autistisch. „Jeder von uns hat seine Lagersymptome“, sagt Jewgenij Salzman, „meine milderte die Wissenschaft.“ Nach seiner Rückkehr nach Riga 1954 erzwang er nach einem jahrelangen Kampf die Zulassung zum Medizinstudium und später zur Habilitation. Eigentlich könnte er sich längst pensionieren lassen, aber nur mit der Rente kann er seine Familie nicht ernähren. Also arbeitet er weiter, aus Passion und wegen der Pension. Sein Monatseinkommen beträgt 40 Lat.

Von den 3.000 Mark, die die „Vereinigung der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge“ jeden Monat aus Baden-Württemberg erhält, zweigt er einige Märker für die „Sterbekasse“ ab. Denn eine Beerdigung kostet 100 Lat, etwas mehr als eine Halbjahresrente. Das restliche Geld wird den Bedürftigen persönlich überreicht, drei Zehnmarkscheine im Monat für jeden. „Wir sind dankbar für diese private Hilfe“, sagt er, aber „lieber als Almosen möchte ich eine Kompensation für die geleistete Zwangsarbeit.“

In diesem Punkt ist er sich mit Margers Vestermanis, dem Historiker, völlig einig. In dessen vor drei Jahren gegründetem „Jüdischen Dokumentationszentrum“ liegen die Dokumente parat. So kann er belegen, daß dem deutschen Staat bis Mai 1942 in Lettland und Litauen 4,5 Millionen Reichsmark aus der „Beschlagnahmung jüdischen Eigentums“ und 5,5 Millionen Mark aus der „Verwertung von Judenarbeit“ zugeflossen sind. Über die Zeit nach 1942 gibt es keine Finanzberichte des Reichskommissariats Ost. Seine eigene „Judenarbeit“ ist nirgends ausgerechnet. Dabei hat er bis zu seiner Flucht in die Wälder von Kurland um sein Leben gearbeitet. Selbst wenn die Bundesregierung jedem jüdischen NS-Opfer in Lettland die Summe bezahlen würde, die deutsche Verfolgungsopfer ab Januar 1994 erhalten, nämlich 500 Mark, „würde Deutschland nicht arm werden“, sagt Vestermanis. „Denn es dauert nur noch ein paar Jahre, und dann sind wir KZ-Hasen alle tot.“ „KZ- Hasen“ sagt er und zuckt nicht einmal zusammen. Und er ergänzt: „Deutschland setzt auf die biologische Lösung.“ Margers Vestermanis, der Abkömmling jüdischer Bourgeois, enzyklopädisch gebildet und fünfsprachig wie die meisten dieser aussterbenden „Spezies“, ist ein Kämpfer. Auch heute noch.

Zur Zeit führt er den „schwierigsten“ Kampf seines Lebens. Er gilt als „Querulant“, als einer, der am nationalen Selbstbewußtsein kratzt. Von seinem Dachkämmerchen aus, im Haus des ehemaligen jüdischen Theaters, führt er einen Kampf gegen das Vergessen. Er will, daß nach jahrzehntelangem Schweigen über die jüdische Tragödie endlich die Wahrheit ans Licht kommt. Die Wahrheit über die Auslöschung der jüdischen Schtetl auf dem Lande, die Wahrheit über die Beteiligung der lokalen Ordnungskräfte und die Wahrheit über die lettischen „Engel“, die Juden trotz aller Repression das Leben retteten. „Die Zukunft der Demokratie hängt davon ab, wie mit der Vergangenheit umgegangen wird“, sagt er, die jahrhundertealte Geschichte der Juden in Lettland „darf nicht aus der Nationalgeschichte und dem Volksempfinden herausgedrängt werden“.

Seine Arbeit ist mühsam, und seine Aufsätze sind bisher nur in Deutschland erschienen. In den lettischen Schulbüchern wird der Holocaust noch heute nur in einem Absatz behandelt, und selbst die schlichte Information, daß vor dem Krieg zehn Prozent aller Rigaer Juden waren, stößt allerorten auf unsägliches Erstaunen.

Auch Margers Vestermanis braucht, um seine Arbeit fortzuführen, Geld. Seine Einheitsrente beträgt 15 Lat, plus 7 Lat, die ihm die Jüdische Gemeinde in Riga für seine Forschungsarbeit bezahlt. Für Papier, Archivreisen, Fotokopien, eine wissenschaftliche Hilfskraft fehlt der Gemeinde das Geld. Bislang kann sich das Zentrum durch private Spenden aus Deutschland gerade so über Wasser halten, für eine Elektroheizung in der eiskalten Dachstube reicht es aber nicht. Und gestern kam die Nachricht aus Riga, daß es dort friert.

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