: Postillion blies zur Reise ins Biedermeier
■ Die gute alte Zeit läßt auch heute die Augen immer wieder feucht werden / Diesmal: Die Kutsche
Lüneburg Wenn ein Stadtkind staunend vor einem dampfenden Haufen von Pferdeäpfeln steht und ein Chefredakteur seine Volontäre anerkennend schmunzelnd mit den Worten lobt: „Endlich seid ihr mal ordentlich angezogen!“, dann ist die Biedermeierzeit ausgebrochen. So war es jedenfalls eines schönen freitags auf dem Lüneburger Sand, dem schönen historischen Platz in Norddeutschland. Ein Dutzend Kutschen — meist aus der Zeit zwischen 1815 und 1848, manche etwas jüngerer Bauart — starteten zum dreitägigen Probelauf für eine neue Art von sanftem Tourismus.
Vom Frühjahr 1994 an sollen zunächst im westlichen Mecklenburg Postkutschen zu einer Zeitreise in die Vergangenheit führen und dabei originalgetreu restaurierte Postgasthöfe ansteuern. „Wie viele es am Ende sein werden, ist offen. Wir wollen mit unserem Projekt die Landschaft schonen, Arbeitsplätze schaffen und Geschichtsbewußtsein vermitteln“, sagt der Erfinder der Postkutschenreisen, der Restaurator Curt Pomp (60).
Zwölfmal blies Postillion Christian Löchel in sein Horn, dann ging die Post ab in Richtung Lauenburg an der Elbe bis zum ersten Halt in Boizenburg (Mecklenburg). Die Signale künden auch der Posthalterei am Zielort die Zahl der Wagen an: Allen voran die prächtige gelbe Kutsche, die zuletzt auf der Strecke Nürnberg-Bad Windsheim verkehrte und in Lüneburg vom in bayrischer Postuniform steckenden Paul Wiesel gelenkt wurde. Er ist im Hauptberuf gerichtlicher Sachverständiger für Pferde-und Kutschenunfälle.
Bildschöne Damen in feinstem Biedermeierputz, zum Teil aus dem DEFA-Filmfundus, winkten huldvoll den hunderten von Schaulustigen zu. So auch Bürgermeisterin Edda Ullrich im blau-weißen Reisekleid und mächtiger Schute auf dem Haar. Während die mitreisenden Männer in schwarzen Gehröcken, Zylindern und Pelerinen ihnen an Eleganz in nichts nachstanden. Eskortiert wurde der Post-Troß von mehreren Lützower Jägern vom Verein des Freicorps von 1813 mit Vorderladern, Tschako auf dem Kopf und Felltornister. Den ungeteilten Beifall der Zuschauer fanden besonders die Wagenpferde, zum Beispiel die beiden schwarzen Friesenpferde mit weißen gehäkelten Ohrenschützern.
„Die Zukunft des Tourismus liegt in der Vergangenheit“, ist sich Initiator Curt Pomp sicher. Das hat er schon vor 20 Jahren den Lüneburger Stadtvätern gezeigt und sie mit vorbildlich restaurierten Bauten von der damaligen Abriß-Ideologie abgebracht. Auf ihrer „Zeitreise“ werden die Urlauber in alte Postgasthöfe gelangen, die oft nur per Kutsche zu erreichen sind. Von ihren Inneneinrichtungen bis zum Essen und kulturellen Beiprogramm soll alles ans Biedermeier erinnern — und auch die Gäste werden in zeitgenössische Kleidung gewandet. Karin Toben/dpa
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