: Der andere Feininger
Eselsohrig-ausgefranste Skizzen und Zeichnungen – Die Emder Kunsthalle zeigt Lyonel Feiningers „Natur-Notizen“ aus der Sammlung des Busch-Reisinger-Museums der Harvard University, Massachusetts ■ Von Rainer B. Schossig
Über 5.000 Handzeichnungen umfaßt der Nachlaß des amerikanisch-deutschen Bauhaus-Künstlers Lyonel Feininger, der im Busch-Reisinger-Museum der Harvard University liegt. Obwohl Kunsthistoriker längst von diesem weitgehend noch unpublizierten Feininger-Schatz wußten, sind diese Zeichnungen bisher noch nie in größerem Umfang durch eine eigens dafür geplante Ausstellung gezeigt worden. Erst jetzt wird in einer Wanderausstellung, die gerade in Emden begonnen hat, eine Auswahl von immerhin 162 Exemplaren dieser „Natur-Notizen“ gezeigt. Der treffende Terminus stammt von Feininger selbst; sichtbar wird hier jedoch ein anderer als der durch zahllose Lesebuch-Reproduktionen trivialisierte Lyonel Feininger.
Kleine bekritzelte Papiere, manche kaum größer als Fahrscheine, ausgefranst, vergilbt und eselsohrig, durchstochen oder schnöde gelocht – alles aber ausnahmslos akribisch datiert. Jeder Zettel ist randvoll: Figuren, Meer- und Dorf-Landschaften, Strände und Parks, Küsten und Katen, dann wiederum minutiös dargebotene Miniaturbilder von Chausseen, Eisenbahnen, Lokomotiven. Hier eine Pariser Häuserecke, dort ein Blick in ein thüringisches Nest rund um einen Kirchturm; große Windjammer-Szenen und kleinkariertes Badevergnügen, kurz – ein prall mit Leben, Himmel, Wasser und Wolken aus der „guten alten Zeit“ angefüllter, wandelbarer Kosmos – das sind Lyonel Feiningers „Natur-Notizen“. Viele hundert, schließlich Tausende von Blättern, die er im Laufe seines Lebens zwischen New York und Berlin, Weimar und Rügen, Bauhaus und Hinterpommern schuf – schmucklose Zeichnungen ohne viel Farbe, mit Bleistift, Tusche, Kohle oder Kreide gemacht.
Thüringische Dome auf fliegenden Blättern
Diese „Natur-Notizen“ bilden das Gelenkstück zwischen dem renommierten jungen Karikaturisten Feininger und dem späteren tiefsinnigen Maler, dem scharf alle Realität protokollierenden und dem abstrakten Künstler einer hymnischen, doch abstrakten Gestaltung. Lyonel Feininger, der seine Bilder nie so direkt von der Landschaft abmalte, war sich schon früh der Bedeutung dieses Fundus beobachteter und erlebter Naturwahrnehmung bewußt. Letztlich beruhten auf solchen kleinen Notaten alle seine späteren Motive: die in kristallisches Leuchten getauchten thüringischen Dome ebenso wie seine wimpelflatternden Fregatten, die munter imaginäre Weltmeere durchsegeln. Feininger, der feste Zeichenblöcke verabscheute, sammelte die fliegenden Blätter über die Jahre in Ordnern, und als er 1937 Deutschland als „Entarteter“ verlassen mußte, gehörten sie zum wichtigsten künstlerischen Kapital, das der Remigrant aus Europa wieder mit nach Amerika brachte.
Es sind locker hingeschlenkerte, spontane und doch sehr konzentrierte Bilder, tagtäglich-jahreszeitlich zusammengetragen von einem eifrig notierenden Wanderer: Frühlings-Zeichen, Sommer-Eindrücke oder herbstliche Blicke, die dann erst – manchmal auch Jahre oder Jahrzehnte später – im winterlichen Atelier zu neuen Kompositionen umgebaut wurden. Welche Verwandlungen: die winzigen, schmucklosen und schlichten Dorfkirchen von Gelmeroda oder Umpferstedt, denen er sich hier schräg von unten blickend ganz undramatisch annähert, sie werden später mit Hilfe von Farbe, Zirkel und Lineal zu den bekannten kristallinen Feininger-Licht-Kathedralen. In den „Natur-Notizen“ ist eine Offenheit gegenüber ihrem Gegenstand angelegt: die transparent gestaffelten Schiffchen in der Bretagne oder auf Usedom und die durchsichtigen Wolken über dem fremden Atlantik; in einer duftigen Hinterhof-Idylle von Lübeck ebenso wie in einer grotesk karikierten Badegesellschaft am feinen Strand von Heringsdorf.
Fremd gewordene Landschaften
Thüringen und die Ostsee wurden Feininger zur zweiten Heimat. Erst 1937, im Jahr der Goebbels-Ausstellung „Entartete Kunst“, ließ sich Lyonel Feininger (er war mnit einer jüdischen Frau verheiratet) überreden, Nazi-Deutschland zu verlassen und in seine Geburtsstadt New York zurückzukehren. Noch im gleichen Jahr wurden daraufhin 378 seiner Bilder aus deutschen Museen beschlagnahmt.
Die Emder Ausstellung zeigt aus den anschließend in den USA entstandenen Skizzen nur wenige, allerdings aufschlußreiche Beispiele: Es sind Aspekte einer fremd gewordenen Landschaft, erstaunte Protokolle der Skyline von Manhattan, Blicke aus dem Fenster in Straßenschluchten, von oben herab auf glitzernde Automobile, Hochhaus-Torsi: aus der Ferne, und dazwischen die neuen, alten Figuren: Passanten, Geschäftige, Umhertreibende, Hastige. Doch Amerika blieb Feininger äußerlich, es war nicht mehr sein Land. Bis zum Lebensende kehrte er in Gedanken ständig zurück in jenes Deutschland, wo seine Bilder verfemt worden waren. Immer wieder holte er seine „Natur-Notizen“ hervor und versuchte die alten Motive in visionäre Malerei zu übertragen. So wurden aus kleinen Reise-Notizen große, melancholische Erinnerungsbilder. Dieses Spätwerk des im eigenen Lande fremd gewordenen Lyonel Feininger gibt den sonst so heiteren „Natur-Notizen“ einen zutiefst biographischen Charakter: von Fremdheit, Sehnsucht und Heimweh.
Lyonel Feiningers „Natur-Notizen“, Skizzen und Zeichnungen aus dem Busch-Reisinger-Museum, sind in der Kunsthalle Emden bis zum 30.Januar 1994 zu sehen, vom 18.Februar bis 17.April im Museum Ludwig, Köln, und vom 29.April bis 3.Juli in den Kunstsammlungen zu Weimar. Der Katalog, 219 Seiten (mit Abbildungen aller ausgestellten Exponate), kostet 42DM.
Gleichzeitig zeigt auch die Abguß- Sammlung Antiker Plastik in Berlin-Charlottenburg noch bis zum 19.Dezember 1993 Zeichnungen, Aquarelle und Grafiken von Lyonel Feininger.
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