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Zwei Welten und keine Zukunft

Nach dreieinhalb Jahren Unabhängigkeit erobert sich Afrika langsam Namibia zurück / Die Bevölkerung des schwarzen Nordens zieht in die weißen Städte – die Aussichten sind schlecht  ■ Aus Oshakati Dominic Johnson

Weißer Sand, soweit das Auge reicht, davor Stacheldraht und ein Schild „Betreten verboten“. Auf der anderen Straßenseite steht die warme Luft in stillen Gärten. Unter Palmen hockt, als Ersatz-Gartenzwerg, ein Plastikleopard; menschliches Leben ist kaum zu sehen bei der brütenden Hitze. Eidechsen huschen durch den Straßengraben, neben niedrigen weißen einstöckigen Häusern liegt der Staubweg einsam und grau. Weitab, wo er sich teilt, ist ein hoher Torbogen zu sehen, darunter eine Sperre: Das ehemalige südafrikanische Militärcamp von Oshakati, der größten Stadt des namibischen Nordens.

Ein massiver Wachturm aus Beton überragt das Gelände, fensterlos, hoch und abweisend. In den Tagen des Krieges werden die weißen Soldaten von dort oben aus eine gute Sicht gehabt haben auf das knapp vier Kilometer entfernte Stadtzentrum. Heute sind sie fort, das Gelände gehört der neuen namibischen Armee, die es aber kaum nutzt. Geblieben ist Freiheit – und Stille. Und ein abgrundtiefes Mißtrauen gegen alles Fremde. „Das hier ist nicht Namibia“, erklärt der Hotel-Barkeeper stolz. „Das ist Ovamboland. Das schöne Ovamboland.“

Schön ist Oshakati nicht, eine wuchernde Provinzstadt ohne rechtes Zentrum, deren Hüttensiedlungen sich weit in die Savanne hineinstrecken. Im Continental- Supermarkt an der Hauptstraße gibt es supermoderne Kenwood- Stereoanlagen und südafrikanischen Birnensaft mit dem Verfallsdatum 10. August, und damit keiner auf die verrückte Idee kommt, ihn zu kaufen, steht eigens eine Angestellte mit erhobenem Zeigefinger daneben. Banken gibt es mit langen Schlangen vor den Geldautomaten, davor mampft eine große schwarze Kuh genüßlich den Inhalt eines stinkenden Abfalleimers und wirft mit leeren Flaschen um sich. Oshakati besteht aus Schuppen im Schlamm, aus Blechhütten und lauschigen verborgenen Villen, es ist eine archaische und im Grunde doch moderne Stadt, geprägt durch die lebenswichtige Schnellstraße, die das Zentrum teilt wie ein reißender Strom, deren glatter Asphalt so gar nicht paßt zu dem Sand und Müll vor den Läden, deren rasender Verkehr neben den Marktständen unablässig die düstere Vergangenheit und fragwürdige Zukunft der Region in Erinnerung ruft.

Denn wäre Ovamboland im Norden Namibias nicht jahrelang Kriegszone gewesen, in der Südafrikas Militär den Kampf gegen die namibische Unabhängigkeitsbewegung Swapo führte und das Material für den Krieg gegen die Kubaner im nördlichen Nachbarland Angola heranschaffte – es läge heute mitten im Nichts. Die Region, in der 40 Prozent aller Namibier leben, hängt am Tropf dieser einzigen breiten Teerstraße, die einst die Armee baute und die von der Stadt Tsumeb über 400 fast schnurgerade Kilometer bis nach Ruacana an der Grenze zu Angola führt. Damals, in den achtziger Jahren, war diese Straße der Nachschubweg für Südafrikas Soldaten, und Ovamboland war Sperrzone, mit einem Checkpoint knapp 100 Kilometer hinter Tsumeb, den nur wenige passieren durften. Heute ist der Krieg vorbei, aber die Straße ist noch da; sie ist die Lebensader, die das dichtbesiedelte Ovamboland mit dem großen leeren Namibia verbindet. Und der Checkpoint hinter Tsumeb ist jetzt ein „Veterinärkontrollpunkt“, an dem ab und zu die Insassen passierender Kleinbusse gezählt werden.

Es sind zwei Welten, die sich hier begegnen. Nach Süden das Namibia, das der Weiße kennt – das Namibia der großen Farmen, der endlosen Stacheldrahtzäune neben kaum befahrenen Straßen, die über Hunderte von Kilometern das vor hundert Jahren entvölkerte Privatweideland der europäischen Siedler abgrenzen. Nach Norden, wohin die Kolonisatoren nicht vordrangen, plötzlich afrikanisches Leben an den Straßenrändern: winkende Anhalter, Dörfer mit Bauern und Viehherden, Kneipen, Tankstellen. Die Gegend um Oshakati ist der am dichtesten besiedelte Teil Namibias, und hier drängt sich alles an der Straße. Über 30 Kilometer reihen sich Hüttendörfer, Spontansiedlungen und Getränkeschuppen aneinander, Esel und Ziegen stauen den Verkehr, auf den „Sorry Supermarket“ folgt die „Desert Inn“ und die „Huhu Bar“, bevor ein Wandgemälde weltgewandt verkündet: „USA – No money, no life“.

Es hätte wohl keine effizientere Entwicklungshilfe für das Ovamboland geben können als diese Straße, und wie jede effiziente Entwicklungshilfe setzte sie unvorhersehbare Prozesse in Gang. Die Konsumgüter Südafrikas drängen auf Lastwagen nach Norden, nach Oshakati und Ondangwa. Und die Bewohner des Ovambolandes drängen in Uraltbussen nach Süden – in die Bergwerke von Tsumeb, in die Häfen von Swakopmund und Lüderitz, bis in die Slums der Hauptstadt Windhoek.

Seit 1990 ist Namibia frei, und eine gigantische, aufgestaute Bevölkerungsverschiebung ist im Gange. Windhoek, das vor fünf Jahren noch 115.000 Einwohner hatte, zählt jetzt je nach Schätzung zwischen 160- und 200.000 – und wächst nach inoffiziellen Schätzungen um 600 Personen pro Woche. Bis zum Ende des Jahrzehnts wird sich die Bevölkerung der Hauptstadt noch einmal verdoppelt haben. Namibia, das ist nicht zu vergessen, hat insgesamt etwa so viele Einwohner wie Hamburg.

Es ist eine nachholende Urbanisierung im Eiltempo, die dem alten Kolonial-Südwesten jetzt langsam ein afrikanisches Antlitz verpaßt. Die Schwarzen, lange gnadenlos vertrieben und in den nördlichen Sperrzonen bekriegt, erobern sich mit den Füßen ihr riesiges unbewohntes Land zurück. Die Behörden sind machtlos, die Neuzugängler lassen sich in improvisierten Lagern an den Stadträndern nieder und reagieren nicht auf die hilflosen Aufforderungen der Regierung, nach Hause zu gehen und ihre Äcker zu bestellen.

Die Welt der Kolonisierten drängt mächtig in die der einstigen Kolonisatoren, und so gerät das auf der trügerischen Hoffnung einer nationalen Versöhnung gebaute Land ins Trudeln. Im Anblick der rasanten gesellschaftlichen Veränderungen erscheint das politische Leben des Landes eingefroren in einer postkolonialen Idylle. Die Anfang November begonnene Wintersitzungsperiode des Parlaments ging nach knapp einer Woche mangels zu bearbeitenden Tagesordnungspunkten schon wieder zu Ende. Während in einem besinnungslos anmutenden Rhythmus Arbeitssuchende jede Woche über Hunderte von Kilometern durch die Wüstenhitze von den Bergwerken und Fischereihäfen in ihre Heimatstädte und zurück hetzen, macht die Politik im wahrsten Sinne des Wortes Urlaub. Ein seit der Unabhängigkeit ausstehendes Landgesetz, das die Ungleichheiten aus der südafrikanischen Besatzungszeit und die massiven Enteignungen der Schwarzen durch die Kolonisatoren überwinden könnte, läßt immer noch auf sich warten.

Währenddessen wächst der Unmut der landlosen und daher zur Migration gezwungenen Bevölkerungsmehrheit: spontane Landbesetzungen sind Normalität, eine Konferenz von traditionellen Führern verschiedener Völker des Nordens forderte die Regierung Anfang November sogar zur Rückgabe des von Touristen geliebten Etosha-Nationalparks auf. Der von der Regierung geförderte Verkauf weißen Farmlandes an schwarze Genossenschaften stockt, da offenbar keine Einigkeit mit den Banken über die Kreditvergabebedingungen herrscht.

Eine Delegation der schwarzen Bauerngewerkschaft „Snafu“ äußerte Ende Oktober in Windhoek ihren Ärger: Die Regierung gewähre den Bauern zwar einen Zuschuß in Höhe von 35 Prozent des Kaufpreises, so daß nur die verbleibenden 65 Prozent als Kredit aufgenommen werden müßten; die Bank aber berechne ihre Zinsen nicht auf diese 65 Prozent, sondern auf die Gesamtsumme. Außerdem fielen die Subventionen der Regierung für Bauerngenossenschaften weg, sobald diese kommerzielles Farmland kaufen. Die Antwort der Regierung auf diese Beschwerden: Wir haben eine Kommission gebildet.

Namibia – ein Land enttäuschter Hoffnungen und immer gewagterer, von der Unsicherheit genährter Überlebensstrategien. In der nördlichen Bergbaustadt Tsumeb – wo das weiße Namibia schon fast zu Ende ist, jedoch vor allem Wanderarbeiter aus den weiter nördlich gelegenen Regionen Ovamboland und Kavango beschäftigt sind – herrscht Angst: Das örtliche Kupferbergwerk, vor hundert Jahren von den Deutschen eröffnet, soll nächstes Jahr schließen und geflutet werden, heißt es unter den Weißen. Der – schwarze – Ortsvorsitzende der Bergarbeitergewerkschaft, Isai Nekundi, hofft demgegenüber auf eine Verlängerung der Förderung bis 1995. Genaues weiß keiner, das Management ist nicht zu sprechen. Um die 12.000 Einwohner hat Tsumeb; über 3.000 Arbeitsplätze bietet das Bergwerk. Tsumeb ist die Schaltstelle des Nordens, das Tor zur weißen Welt. „Wenn die Mine schließt“, seufzt Nekundi, „stirbt die Stadt.“

Und wo sollen die Migranten hin? Nicht nur der Kupferbergbau ist bedroht. Die Diamantenförderung, die einen wichtigen Teil der Exporte des Landes erwirtschaftet, steckt in einer tiefen Krise – der Verkauf der Edelsteine wird in diesem Jahr 25 Prozent weniger Geld einbringen, schätzt die Regierung. Energieminister Andimba Toivo ya Toivo gibt die Schuld den Südafrikanern, beklagt „unzureichende Investitionen in den vergangenen 15 Jahren“ und hofft auf ausländische Investoren, vor allem aus den USA. Aber seit Mitte November streiken die Arbeiter in den Diamantenminen des Südwestens, die dem südafrikanischen Multi „Anglo-American“ gehören; sie fordern 15 Prozent mehr Gehalt, die Firma bietet nur 8 Prozent. Eine Lösung gibt es bisher nicht – Vermittlung der Regierung auch nicht. Perspektiven? Der Diamantenreichtum, das wissen alle, geht zur Neige.

Wenn es nach den Wünschen der Regierung geht, sollen die Ovambos aus dem Norden jetzt nicht mehr unter die Erde gehen und auch nicht in die explodierenden Townships. Die Zukunft Namibias, hofft der Staat, liegt an der See. Die neue Wachstumsbranche ist die Fischverarbeitung – die vor zwei Jahren erst 147 Leute beschäftigte, heute aber schon über 1.000. Aber kann das die Lösung sein? Vor wenigen Wochen mußten Fischereiarbeiter in der südlichen Hafenstadt Lüderitz ihre Fabrik besetzen, um die Löhne ausgezahlt zu bekommen, und selbst die Regierung weiß von den Schwierigkeiten. „Wir erkennen an, daß die wichtigen Fischvorkommen vor der namibischen Küste leergefischt worden sind“, heißt es in einem Weißbuch der Regierung. „Die Hauptaufgabe der Regierung im Fischereisektor wäre es, diese Ressourcen wieder auf ein produktives Niveau zu heben.“ Der Staat als Fischzüchter: Für die Bauern und Händler im fernen Oshakati, die sich einst von ihrer Befreiungsbewegung Swapo Großes erhofften, wohl nur ein schwacher Trost.

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