: Reisender mit Bleiweste
Der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo war in Sarajevo ■ Von Jörg Lau
Reisende sind süchtig nach Schwellenerlebnissen. Was dieser Reisende aber an der Schwelle von hier und dort erlebt, kündigt etwas anderes an als den stets mit Angstlust verbundenen Wechsel vom Vertrauten ins Fremde. Die UN- Schutztruppen (Unprofor), die ihn am Flughafen in Empfang nehmen, müssen leider darauf bestehen, eine kleine Formalität zu regeln, bevor sie den Reisenden mit ihren Panzern vom Flughafen in die Innenstadt bringen dürfen: Er muß ein Dokument unterzeichnen, das die Unprofor von aller Haftung im Falle von „Verlust, Verletzung und Tod“ entlastet.
Was mag das wohl für eine Stadt sein, deren sogenannte Schutztruppen ihre Schützlinge mit einem Ritual begrüßen, das jene Funktion, die ihr Name ihnen zuschreibt, mit der Unterschrift des Schützlings durchstreicht: „Hiermit nehme ich zur Kenntnis“, könnte auch in dem Papier stehen, das der Reisende unterschreibt, „daß die ,Schutztruppen‘ mich im Zweifelsfall nicht schützen werden“. Diese anschauliche Szene gehört in die Linguistik-Lehrbücher – und zwar an genau jene Stelle, die die Studenten über die „Arbitrarität des Zeichens“ belehrt. Welch ein Musterbeispiel für die Theorie, daß der Zusammenhang von Bezeichnendem und Bezeichnetem auf nichts als Übereinkunft beruht! Und sie gehört auch in die Soziologie-Lehrbücher – an jene Stelle, die die Studenten darüber aufklärt, was eine „Risikogesellschaft“ ist.
Unser Reisender, kein Kriegsberichterstatter, bloß einer der wenigen Schriftsteller, die es genauer wissen wollen, setzt also auf dem Flughafen von Sarajevo seinen Namen wie verlangt unter jenes Papier: Juan Goytisolo. Er weiß seitdem nicht nur, daß er sich bei niemandem wird beschweren können, wenn ihn seine Beschützer nicht beschützen; er weiß auch, daß man sich in dieser Stadt bei Gefahr seines Lebens besser nicht auf Namen und Bezeichnungen verläßt. Hier schlottern die Worte um die Dinge herum wie die schäbigen Kleider um die abgemagerten Menschen.
Die Insassen der belagerten Stadt wehren sich dagegen. Mit der Schere des Zynismus stutzen sie die Sprache zurecht, bis sie wieder zu den Verhältnissen paßt: Die „Voivoda Putnika“, die Straße, die durch den modernen Stadtteil führt, ist zum „Boulevard der Heckenschützen“ umgetauft worden. Dieser Boulevard, auf dem niemand mehr als ein paar Schritte aufrecht bleibt, führt an jenem Hotel vorbei, das immer noch „Holiday Inn“ heißt. Auch hier ist einiges zu Bruch gegangen, und den Komfort der Vorkriegszeit kann man natürlich nicht mehr bieten. Man ist allerdings konkurrenzlos am Platze, und wer sich traut, eine Weile am Fenster zu stehen, hat allseits einen unvergleichlichen Ausblick auf die Neue Weltordnung.
Um dieses Ausblicks willen ist Goytisolo in die Stadt gekommen. Das Ankommen ist hier allerdings, wie so vieles, eine besondere Sache. Es gibt da ein paar seltsame, aber wichtige Regeln zu beachten, die einem freundliche Eingeborene nahelegen. Man muß zunächst einmal, wenn die ziemlich abgeschmackte Metapher ausnahmsweise erlaubt ist, den aufrechten Gang ver- und den gebückten erlernen. Man muß wissen, daß die friedliche Ruhe bestimmter Stadtbezirke einen Mörserangriff ankündigen kann. Und man sollte jene Verkehrsregel beachten, durch welche sich diese Stadt von allen Städten der Welt unterscheidet: vor Kreuzungen, den bevorzugten Jagdgründen jener Helden auf den Hügeln, die am liebsten auf Frauen und Kinder schießen, gilt es unbedingt zu beschleunigen.
Wer sich so hat belehren lassen, kann es wagen, sich in der Stadt umzusehen. Unser Reisender wird jetzt, mit einer schußsicheren Weste beschwert, zum Reporter. Solch eine Weste ist natürlich zunächst einmal eine hervorragende Einrichtung. Sie schützt halt. Einerseits. Andererseits leben so ungefähr 380.000 Menschen in dieser Stadt, unter denen man mit der Weste auffällt wie ein Badehosenträger am Nacktstrand. Irgendwann bemerkt der Reporter nebenbei, er hasse dieses Kleidungsstück. Man darf vermuten, daß seine Gesprächspartner dieses Gefühl teilen, ohne daß dabei persönliche Mißgunst im Spiel ist. In Sarajevo verwandelt sich eine solche praktische Weste in ein Stigma, das den Träger von seiner Mitwelt im gleichen Maße isoliert, wie es ihn auszeichnet. Sie abzulegen, wäre eine widerliche Anbiederung.
Es ist ein Verdienst des Autors, solche Momente der Distanz nicht dem unverhohlenen Zweck des Buchs – Empörung und Mitleid zu erregen und zum Engagement aufzustacheln – zuliebe zensiert zu haben. Das wäre auch eine ganz sinnwidrige Stilisierung; nichts ist hier wichtiger, als Selbstverkitschung zu vermeiden. Goytisolos mikroskopische Selbstbeobachtung – die kurze Bemerkung über den Haß auf die Weste, die er doch nicht ablegen kann – wiegt die gesamte obszöne Debatte über das „Versagen der Intellektuellen“ auf. Goytisolo also behält seine Weste an und schaut hin. Was er zu sehen bekommt – im Krankenhaus die verstümmelten Kinder („wie eine Mustersammlung des der Stadt auferlegten Leidens“), die improvisierten Friedhöfe im Schutz der Hügel („kein Holz, um Särge zu bauen“), das Redaktionsgebäude der letzten bosnischen Zeitung Oslobodjenje („von Trümmern übersäte Flure“) – gibt er kühl und ohne die Manieriertheiten des Frontreporters weiter. Unmittelbarkeitsgesten sind ihm fremd; wir erfahren nicht nur, was er sieht, sondern auch, was er nicht sehen kann: „Ich lebe seit fünf Tagen im Holiday Inn und habe dessen vordere Fassade noch nicht gesehen.“
Auf einem der eingefügten Fotos von Gervasio Sánchez kann man Goytisolo in den Trümmern der Sarajevoer Bibliothek stehen sehen. Am 26. August 1992 ist dieses Bauwerk durch serbische Brandraketen in Asche gelegt worden. Der gesamte Bestand, darunter Tausende arabischer, türkischer und persischer Manuskripte, geschichtliche, geographische, theologische, literarische und naturwissenschaftliche Werke, wurden vernichtet. Goytisolo sieht in diesem Akt den exemplarischen Versuch, das kollektive Gedächtnis der bosnischen Muslime zu zerstören; er prägt dafür einen Begriff von drastischer Genauigkeit: Memozid. Sein kleines Buch kann, wenn schon das Zerstörte unwiederbringlich dahin ist, wenigstens die Erinnerung an die Zerstörung bewahren. Wohl auch darum hat Juan Goytisolo am vorletzten Wochenende den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund erhalten.
Juan Goytisolo: „Notizen aus Sarajevo“. Aus dem Spanischen von Maralde Meyer-Minnemann. Suhrkamp Verlag, 140 Seiten, zahlreiche Fotos von Gervasio Sánchez, 15,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen