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Wie der Zeisig, so auch das Käthchen

■ Trotz Kündigung des Mietvertrags hat die Chora e.V. im Schoko-Laden in der Ackerstraße eine neue Inszenierung herausgebracht: „Käthchen!“ nach Kleist

Die Wände der Halle sind klobig, unbehauen und roh, der Raum selbst ist grottenhaft und beispiellos ungünstig geschnitten. Bis zur neuesten Inszenierung hatte die Rückwand einen beulenartigen Auswuchs, jetzt wurden kurzentschlossen zwei Wände niedergerissen. Mit dem Ergebnis, daß nun eine dicke Steinsäule mitten auf der Bühne steht. Dennoch hängen sie an diesem einmalig häßlichen Raum, die sieben Theaterwissenschaftsstudentinnen, die 1991 mit der Gründung des Theaterprojekts Chora e.V. eines der wenigen Off- Theater in Mitte eröffneten. „Wir bleiben drin, da können die Wände noch so räudig sein“, erklärt Antje Borchardt von Chora entschlossen. Zwar wurde dem Verein zum 31.12. gekündigt, denn wie so viele Häuser des Bezirks hat auch die alte Schokoladenfabrik in der Ackerstraße einen neuen Besitzer mit Hang zur Luxussanierung. Aber anstatt die alte Halle im Hinterhof zu räumen, luden die Mieterinnen zu einer trotzigen Silvesterpremiere.

Die Assoziation „Mittelalter“ liegt angesichts des Theaterraums nicht weit, und so ist die Inszenierung von „Käthchen!“ nach Heinrich von Kleist (Regie: Matthias Merkle) hier am rechten Ort. Gute sechzig Prozent des Textes wurden weggekürzt, so daß nur die sensationellen Geschehnisse übrigblieben, an denen Kleists Ritterstück wahrlich nicht arm ist. Femegericht, die Rettung eines gefangenen Burgfräuleins, Feuer und wunderbare Rettung, prophetische Träume und Gottesurteil kommen im Kleistschen Originalton auf die Bühne, weniger spannende Passagen faßt zwischendurch ein Erzähler zusammen.

Am Ende setzt die Inszenierung noch einen drauf und läßt das Käthchen kurz vor der ersehnten Hochzeit mit dem Grafen tot umsinken – aus purer Freude am Spektakel. Die im Stück verborgene unfreiwillige Komik tritt bei einer so kruden Reduktion auf das Sensationelle in kräftigen Farben hervor, und diese Komik wird noch dadurch verstärkt, daß der Inszenierung an psychologischer Nuancierung der Charaktere nichts gelegen ist. Der Graf erscheint als ungehobelter Klotz mit Messern im Stiefelschaft, Kunigunde als fiese Intrigantin und Käthchen als patziges Werkzeug Gottes. Die Schauspieler – alle sind als Mitglieder verschiedener Theatergruppen schon bei „Chora“ aufgetreten und haben sich jetzt zur Rettung des Projekts neu zusammengefunden – sprechen ihren Text mit unwiderstehlicher Laienhaftigkeit und mehr oder weniger unbewegten Mienen.

So von der Schauspielkunst im Stich gelassen, verwandeln sich Kleists Blankverse ganz von selbst in Parodie, und am Ende jubelt das Publikum schon bei Wendungen wie „meiner kaiserlichen Lenden Kind“ oder bei Kunigundes saftigen Flüchen („Pest, Tod und Teufel!“) laut auf. Ob diese Klassikerdemontage nun von der Regie beabsichtigt ist oder nicht – sie ist ebenso witzig wie raffiniert, weil sie dem Text von außen nichts aufzwingt, sondern ihn, gut postmodern, den internen Selbstzerstörungsmechanismen überläßt.

Mit dem „Käthchen!“ setzt Chora zum 22. Mal das Konzept um, jungen, künstlerisch ausgebildeten Leuten Raum für ein größeres Projekt zu geben. Das Bühnenbild zeigt eindrucksvoll, was in der denkmalgeschützten Fabrikhalle steckt: Vor dem räudigen Gemäuer brennen Kerzen, in eine kleinen Rampe vor der Bühne wurden winzige Kirchenfenster mit romanischen Bögen eingelassen, auf der Bühne selbst ist fußhoch Erde aufgeschüttet – Nährboden für den Holunderstrauch, über den Käthchen die schönsten Verse des Stücks spricht: „Den Zeisig littest du, den zwitschernden, in den süßduftenden Holunderbüschen, möchtst denn das Käthchen von Heilbronn auch leiden.“ Mit einem feuerfesten Miniaturmodell von Burg Thurneck und einer Reihe halbversunkener Grabsteine ist die Mischung aus Puppenstube und Naturalismus à la Reinhardt perfekt.

„Es ist jedesmal wieder faszinierend zu sehen, was eine Gruppe mit dem Raum macht“, sagt Antje Borchardt. Eine andere Spielstätte zu finden, die ebenso zentral gelegen und billig wäre – ein wichtiger Gesichtspunkt, weil die Berliner Spielstätten-Förderung nur bei Mietverträgen auf zehn Jahre und länger angewendet wird –, hält sie für unmöglich. Aber noch denkt niemand bei Chora ans Ausziehen, ebensowenig wie die übrigen Nutzer des Schoko-Ladens, die dort eine Konzertkneipe, Ateliers und Werkstätten und eine Comicbibliothek haben.

Viele von ihnen wohnen auch im Gebäude, und daran könnte die Kündigung durch den neuen Besitzer scheitern. Bis zur gerichtlichen Klärung wird weitergespielt, schlüpft das Käthchen in ihr blaues Mariengewand, zieht der Graf den Fehdehandschuh an und der deutsche Kaiser seine hermelinbesetzten Schlaghosen. Miriam Hoffmeyer

Noch bis 30.1., Fr.–So., 20 Uhr im Schoko-Laden, Ackerstraße 169–170, Mitte. Vorbestellungen unter Tel.: 208 74 55.

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