: Auf der Streif des Nordens
Von ehemaligen großen Abfahrern und solchen, die es morgen in Kvitfjell vor der Rekordmenge von 38.000 Zuschauern werden wollen ■ Aus Lillehammer Cornelia Heim
Als Toni Sailer in den 50er Jahren als „Blitz von Kitz“ die Hänge verunsicherte, war der Österreicher der erste, der entdeckte, daß es der unbeschwerten Schußfahrt nicht unbedingt bekömmlich ist, eine halbe Stunde vor dem Startschuß ein Würstchen mit Senf zu verdrücken, wie es wohlmeinende Veranstalter zur Stärkung der Rennfahrer anboten. Kraft brauche der starke Mann, hieß es zu einer Zeit, in der Nahrungsaufnahme noch ohne Wissenschaft vonstatten ging. Dem Toni ging der Saft aber nach der Nahrungsaufnahme stets auf halber Strecke aus. Er ließ das Würstchen Würstchen sein und fuhr schneller als alle anderen, 1956 bei den Olympischen Spielen in Cortina d'Ampezzo in allen drei damaligen Disziplinen – Abfahrt, Slalom, Riesenslalom. Außerdem wärmte er als erster Abfahrer seine Muskeln vor dem Rennen auf. Nur versteckte er sich, aus Angst vor der Häme seiner eher konservativen Konkurrenten, zur Gymnastik im Wald.
Fragt man den Revolutionär Sailer heute, ob sich im Laufe der Zeit etwas geändert habe, sagt er erstmal provisorisch kategorisch: „Nein!“ Runterkommen müsse ein jeder, „g'rad so, od'r?“ Ganz so, wie es das ungewohnte österreichische Understatement vermuten läßt, ist die Zeit aber doch nicht stehengeblieben. In den letzten Jahren hat sich auf der Abfahrtstrecke soviel getan, daß Mensch dem Material kaum hinterherkommt. Zum Leidwesen des Schlierseers Markus Wasmeier, der die Entwicklung beklagt: Auf den neuerdings taillierten Skiern fahre man wie auf Kufen einer Eisenbahnlinie. „Jeder Fehler wirkt sich fatal aus.“ Klaus Gattermann, der Entwicklungsspezialist des deutschen Rennsports, kann sich schon denken, warum der „Wasi“ im Training die „Kurven verhaut“ und den ersten Versuch nur als 13. abschloß: „Durch die neue Form schießen die Skier extrem schnell in die Kurven und bedürfen besonderer Führung.“ Diese schien ihnen Hannes Trinkl, der 26jährige Bauernsohn aus St. Pankraz (Österreich) und Trainingsschnellster, am besten angedeihen zu lassen.
Damit auch die höheren Startnummern gleiche Bedingungen vorfinden, werden die Pisten, anders als zu Sailers Zeiten, nicht nur getreten, sondern derart mit Wasser übergossen, daß sie bockelhart frieren, was der Olympia-Strecke 1994 vom Olympiasieger 1992, Patrick Ortlieb, das höchste zu vergebene Kompliment einbrachte: „Eine kompakte Abfahrt, wahrlich olympiawürdig.“ Obwohl Helmut Höflehner, der Veteran im Austria-Team, zu bedenken wagt: „Die Kurven sind ganz schön rutschig.“
Rutschpartie hin oder her, solches Lob bekam die Face de Bellevarde bei Val d'Isère, olympische Abfahrtstrecke 1992, nicht zu hören. Sie wurde abschätzig als „Autobahn“ bezeichnet. Dabei ist der Pistenbauer derselbe – Bernhard Russi, Olympiasieger 1972 aus der Schweiz, genannt „Gentleman auf Ski“. Tommy Moe, einer aus dem US-amerikanischen Abfahrt-Trio, weiß ganz ungentleman-like warum: „Russi hat eben drei Anläufe gebraucht, um eine gute Strecke hinzukriegen.“
Dieter Bartsch, der vor fünf Jahren aus dem österreichischen Team wegen Mißerfolges als Trainer gegangen wurde und seitdem den Norwegern das Skifahren erfolgreich beibringt, gefällt die Piste „ganz optimal“: Schön schwierig sei sie, „man muß die ganze Zeit arbeiten“. Und Kjetil Andre Aamodt, seit seinem Olympiasieg im Super-G die bekannteste norwegische Pistensau, behauptet gar, die Olympiaabfahrt sei die beste und sicherste Abfahrt der Welt: „Weit gebaut, kein Baum im Weg.“ Der Berg, gerade einmal 1.020 Meter hoch, biete, so sagt sein Designer, „eine große Herausforderung“, die 20.000 Bäume das Leben gekostet und 40 Millionen Mark verschlungen hat. Groß und mächtig, schicksalsträchtig. „Eine Abfahrt der Zukunft“, welche die Österreicher ehrfurchtsvoll „die Streif des Nordens“ getauft haben.
„Wer keine Angst hat, der ist dumm“, sagt Toni Sailer, der die Kvitfjell-Piste beim Training inspizierend vorsichtig runtergerutscht ist. „Wer Angst hat, ist kein Abfahrer“, setzt der österreichische Abfahrttrainer Kurt Engstler dagegen, „ein Abfahrer muß auch im richtigen Leben etwas von einem Haudrauf haben.“ Nichts Nachdenkliches. Augen zu und Schuß. Beispielsweise bei diesiger Sicht. A.J. Kitt: „Das ist wie im Blizzard auf der Autobahn. Du hast die Nebelscheinwerfer an, siehst nichts, aber willst auch nicht abbremsen.“ Abbremsen müssen die Abfahrer mittlerweile, ob sie wollen oder nicht. Denn auf Abfahrtstrecken kann man nicht mehr von oben bis unten durchheizen. Kurt Engstler: „Wir trainieren nur noch Super-G, weil man immer mehr lernen muß, auch in der Abfahrt das Tempo zu dosieren.“ Kommentar Sailer: „Einfach spitze, schöne lange Kurven, die man sehr präzise fahren muß.“ Sein Tip deshalb: „Gul“ (Gold) für einen erfahrenen Läufer – „Ortlieb oder Girardelli“.
Einer, der, wenn man ihn nur lassen würde, gerne ein Wörtchen mitreden möchte, ist der Weltmeisterschafts-Dritte, A.J. Kitt, 25. Auf seinem Sweatshirt steht „Champion“. Was er am meisten liebt in Kvitfjell, ist der Russi- Sprung, der sich nach schwer zu fahrenden Kurven auf den ersten 30 Sekunden und einer kurzen anschließenden Ausruh-Gleitphase in den Weg stellt: „Boah, der geht 80 Meter weit!“ „Endlich ein Sprung, der so ist, wie wir Sprünge lieben“, schwärmt auch Riesen- Baby Patrick Ortlieb, dem sein Trainer seit kurzem zur besseren Koordination Ballett und Afro- Dancing verordnete: „Genügend Platz und die Landung im Steilstück.“ Ja, sagt Kitt, „du siehst nicht, wo du landest“. Aber, so Teamkollege Moe, „wenn du schlecht landest, das halten sie dir am nächsten Tag vor“. Weiter geht's ins Mittelstück mit schnellen Passagen, starken Richtungsänderungen im Waldstück zum „Karussell“ und in den Zielhang.
Homo alpinus mußte sich wandeln. Wurde früher wie die nordische Kombination nur die alpine Kombination (Slalom und Abfahrt, nicht einzeln) gewertet, gilt heute nur der Abfahrer als Sinnbild des kernigen Skifahrers, die Abfahrt als Königsstrecke. Morgen werden in aller Herrgottsfrühe 38.000 – so viele wie noch nie zuvor – zur olympischen Strecke nach Kvitfjell pilgern. 3.007 Meter ist sie kurz. („Zu kurz für einen echten Klassiker“, meint Ortlieb.) „Sie dürfte nicht länger sein, sonst wäre sie zu anstrengend“, hält Dieter Bartsch dagegen.
Im österreichischen Team hat sich einiges getan, sagte der große Franz Klammer, Olympiasieger von Innsbruck 1976. Er fahre nicht wegen des Geldes, sondern weil es ihm Spaß mache, läßt Patrick Ortlieb, der Elsaß-Österreicher und Überraschungssieger von Albertville, keinen Zweifel daran, was seine 95 Kilo Masse beflügelt: „Ich schaue nur auf mein Portemonnaie.“ Der 26jährige, den ein lädiertes Brustbein sowie ein kaputtes Knie zum 25prozentigen Sportinvaliden machten, läßt sich sein Risiko gut bezahlen: 420.000 Schilling (60.000 Mark) Preisgeld für den Abfahrtssieg auf der Streif in Kitzbühel, der Hausstrecke, vom Sailer Toni, dem Blitz von Kitz.
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