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Der Filmdichter

■ Vor 100 Jahren wurde der „Caligari“-Autor Carl Mayer in Graz geboren. Zum Geburtstag „Sylvester“, rekonstruiert

Carl Mayer ist eine singuläre Erscheinung in der Geschichte des deutschen Stummfilms. Sein Name verbindet sich vor allem mit dem „Cabinet des Dr. Caligari“ aus dem Jahr 1919. Mayer schrieb auch die Filmmanuskripte zu „Scherben“ und „Sylvester“, „Erdgeist“ und „Vanina“, „Der letzte Mann“ und „Sunrise“. Er arbeitete hauptsächlich für die Regisseure Friedrich Wilhelm Murnau, Lupu Pick und den Theaterintendanten Leopold Jessner, der für den expressionistischen Inszenierungsstil bekannt war und Mayers Buch zum Film „Hintertreppe“ mit Fritz Kortner und Henny Porten umsetzte. Allein 17 der insgesamt 22 Stummfilme, für die er die Drehbücher verfaßte, wurden zwischen 1919 und 1923 realisiert.

Bereits 1920 gab es im Rahmen einer Vereinigung der Filmliga öffentliche Lesungen aus Drehbuchmanuskripten; bei solcher Gelegenheit wurde Lupu Pick auf Mayer aufmerksam. Mayers Filmmanuskript „Sylvester“ (1923) erschien als eines der ersten Drehbücher in einer Buchreihe. Ausgerechnet das Film Center des National Museum of Art in, ja, Tokio (Tokyo), ist im Besitz der einzigen vollständig erhaltenen, rekonstruierten und zeitgenössisch viragierten (also wie im Stummfilm eingefärbten) Kopie, die von „Sylvester“ existiert.

Mayer begann als Autor mit der Arbeit an Filmstoffen und beendete sie, bevor der Tonfilm einsetzte. Praktisch ohne alle Vorbildung (er soll einen Theateralmanach herausgegeben haben) geriet Mayer in die deutsche Filmindustrie. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden jährlich bis zu 500 Filme; die Stoffgier des Kinos mußten Serien- und Kolportageschriftsteller befriedigen, schnellschreibende Tagesautoren, die dem Bedarf an filmischen „Groschenromanen“ befriedigen konnten.Der am 20. Februar 1894 in Graz geborene Carl Mayer hatte sich lange Zeit mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten müssen. Angeblich, wieder nur ein Gerücht, malte er während des Ersten Weltkriegs Bilder vom Reichsfeldmarschall Hindenburg. Ohne Erfolg versuchte er sich dann als Schauspieler, brachtes aber immerhin zum Inspizienten und Hilfsregisseur in Berlin.

Mayer gilt als der eigentliche Schöpfer des psychologischen Kammerspielfilms, dessen Handlung sich aus den unbewußten Konflikten in kleinbürgerlichen Verhältnissen zusammensetzt. Eine Sensation war der bewußte Verzicht auf Zwischentitel; die Bilder behielten ihre eigene Sprache. Es heißt, der „Russenfilm“, Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ vor allem, habe einen derartig starken Eindruck auf Mayer gemacht, daß er seine Vorstellungen nur noch im dokumentarischen, nicht mehr im Schauspieler-Film habe realisieren wollen. Die Idee zu Walter Ruttmanns „Berlin. Sinfonie einer Großstadt“ stammt von ihm. Das Angebot der Twentieth Century Fox, mit Murnau nach Hollywood zu gehen, schlägt er aus. In seinem Vertrag mit dieser Gesellschaft, für die er „Sunrise“ nach Hermann Sudermanns Novelle „Die Reise nach Tilsit“ schreibt, macht er zur Bedingung, daß er in Deutschland arbeiten kann. An Murnaus „Four Devils“ schreibt er mit, bald jedoch reduziert er seine Tätigkeit beim Film auf die Rolle des dramaturgischen Beraters (vor 1933 für Paul Czinner und Kurt Bernhardt).

In der englischen Emigration arbeitet er als consultant im Dokumentarfilmteam Paul Rothas. Die Spuren seiner einst so überdeutlichen Handschrift werden immer verschwommener: Im Londoner Exil arbeitet er an „Pygmalion“ und „Major Barbara“ nur mit. „Er sah wie ein Caféhaus-Literat aus, war oft in Geldschiweirgkeiten, nahm hohe Vorschüsse, ließ mit der Arbeit auf sich warten und behauptete, nicht weiterarbeiten zu können, wenn er keine weitere Bezahlung erhielte“, berichtet ein Zeitgenosse. Mayer lebte ausschließlich vom Film, vom Stummfilm. Zum Tonfilm hielt er Abstand, geriet bald in Vergessenheit und finanzielle Not. Vor fünfzig Jahren ist Carl Mayer in London gestorben. Er liegt in Highgate bestattet, in einem ziemlich verwahrlosten Grab, aber immerhin in der Nähe von George Eliot und Karl Marx. Jörg Becker

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