: Die Zahl ostdeutscher Frauen, die sich mittels Sterilisation gegen ein (weiteres) Kind entscheiden, steigt nach systematisch erhobenen Zahlen aus Brandenburg auch im Jahre vier nach der Vereinigung rapide an. Was zunächst als „Nachholebedarf“ gewertet wurde, ist eindeutig Ausdruck starker Verunsicherung. Von Vera Gaserow
Aus Zukunftsangst auf Nummer Sicher
Nachholebedarf“ – das DDR-Wort zur Erklärung eines spezifisch ostdeutschen Phänomens war schnell gefunden: Bei dem, was allerorten in den gynäkologischen Kliniken der neuen Bundesländer geschehe, handele es sich um reinen „Nachholebedarf“. Kein Grund zur Sorge also darüber, daß in Ostdeutschland die Zahl der Frauen, die sich mittels einer Sterilisation definitiv gegen ein (weiteres) Kind entscheiden, nach der Wende sprunghaft angestiegen ist. Ein Alarmsignal, ein Indiz für den Trend zur Kinderlosigkeit in Ostdeutschland, ein Seismograph für soziale Verunsicherung und Zukunftsangst? Die Experten winkten ab: der drastische Anstieg sei nur allzu erklärlich. Schließlich waren Sterilisationen zu DDR- Zeiten so gut wie unmöglich. Nur unter strenger Begutachtung und einer Kette von medizinischen Indikationen waren sie überhaupt erlaubt. Gerade mal 200 bis 400 Eingriffe dieser Art genehmigten die ärztlichen Gutachterkommissionen der DDR jedes Jahr. Bei Männern waren sie generell verboten.
Kein Wunder also, daß die Frauen im Osten nun die Möglichkeit zur hundertprozentig sicheren Verhütung nutzten, die ihre Schwestern im Westen schon lange hatten. Nach der Vereinigung schnellte die Zahl der Sterilisationen im Osten um das Hundertfache in die Höhe. Aber das werde sich wieder auf Normalmaß einpendeln, beschwichtigten die Experten.
Nun werden sie wohl neue Erklärungen suchen müssen. Denn aktuelle Zahlen aus Brandenburg belegen, daß der vermeintliche Nachholbedarf sich wider seine Natur verhält: auch nach drei Jahren ist er nicht gesättigt, sondern deutlich gewachsen. Seit der Vereinigung, so belegen amtliche Statistiken, hat sich die Zahl der Sterilisationen in Brandenburg von Jahr zu Jahr mindestens verdoppelt. 1991 ließen sich 820 Frauen sterilisieren, 1992 lag die Zahl schon bei 1.200. 1993 hat sie jetzt die Rekordmarke von 6.000 erreicht. Gemessen an der Einwohnerzahl Brandenburgs liegt diese Zahl weit über den – allerdings nur schätzbaren – Vergleichsdaten in den alten Bundesländern. Einen statistischen Sprung von 1992 auf '93 hatten zwar auch die Brandenburger Gesundheitspolitiker erwartet. Denn 1993 lieferten erstmals sämtliche Krankenhäuser ihr Datenmaterial und nicht nur die großen Kliniken. „Als die Zahlen dann aber auf dem Tisch lagen“, sagt Dr. Siegrun Steppuhn, zuständige Abteilungsleiterin im Gesundheitsministerium, „da hat es auch mir die Sprache verschlagen.“
In Brandenburg wertet man den starken Anstieg als „ausgesprochen alarmierendes Zeichen“ – alarmierend vor allem vor dem Hintergrund einer weiteren Statistik: Während die Zahl der Sterilisationen ansteigt, ist die der Geburten weiterhin rückläufig. Der Rückgang ist zwar nicht mehr so dramatisch wie in den ersten beiden Jahren nach der Wende, als die Geburtenziffern sich im freien Fall halbierten und von 33.000 (1989) auf 13.500 (1992) in den Keller sackten. Doch auch 1993 wurden in Brandenburg wieder rund 1.000 Kinder weniger geboren als im Jahr zuvor. Insgesamt sank die Zahl der Geburten in Ostdeutschland gegenüber dem Vorjahr wieder um deutliche 8,2 Prozent.
Daß der brandenburgische Trend auch für die anderen neuen Bundesländer zutrifft, zeigen Nachfragen in einzelnen Kliniken. Doch außer Brandenburg hat nur Mecklenburg-Vorpommern die Zahl der jährlichen Sterilisationen erfaßt. Hier weisen die Statistiken einen leichten Rückgang aus, allerdings wurden hier nicht sämtliche Krankenhäuser befragt. Als einziges Bundesland in West und Ost kann deshalb Brandenburg eine komplette Statistik zum Thema Sterilisation vorweisen. Aufgeschreckt durch den drastischen Anstieg in den ersten beiden Nachwendejahren, alarmiert durch Presseberichte über zunehmenden Druck von Arbeitgebern auf Stellenbewerberinnen, hat das Gesundheits- und Sozialministerium sämtliche Krankenhäuser um Rückmeldung gebeten und die Chefärzte zu Gesprächsrunden geladen. Wichtiges Ergebnis der Nachforschungen: Die These vom „Nachholebedarf“ trifft so nicht mehr zu.
Rolf-Peter Kopp, Gynäkologe an der Frauenklinik Schwedt, hat sie ohnehin nie geglaubt: „Das ist eine These, die sich die Kollegen zurechtlegen, um ihr Gewissen zu beruhigen.“ Kopp hat rund 200 Frauen, die sich in seiner Klinik sterilisieren ließen, nach ihren Motiven gefragt. Fazit: Fast alle Frauen hatten schon ein oder mehrere Kinder und hätten sich auch ohne Sterilisation vor einer erneuten Schwangerschaft geschützt. Die weitaus meisten gaben aber an, gerade diese anderen Verhütungsmittel nicht zu vertragen. Was die Frage aufwirft, welche Mittel sie bisher benutzten.
Auf Rang zwei der Motive rangiert dann schon der Grund „soziale Unsicherheit“. Auch wenn sich die meisten der Patientinnen durchaus zufrieden über die eigene finanzielle Situation äußerten, die Angst vor mangelnder sozialer Absicherung und die Verunsicherung über das Karlsruher Abtreibungsurteil drängen offenbar dazu, lieber auf Nummer Sicher zu gehen – auch wenn das einen gravierenden Eingriff in den eigenen Körper bedeutet. Etliche Frauen nennen immerhin nicht nur Zukunftsangst, sondern auch Lust auf Unabhängigkeit und angstfreie Sexualität als Grund für die Entscheidung: „Jetzt möchte ich anfangen zu leben“, schrieb eine Patientin in ihren Fragebogen.
Die meisten Frauen in der Schwedter Klinik waren zwischen dreißig und vierzig – ein Alter, in dem die meisten Frauen in Ostdeutschland längst ein oder mehrere Kinder haben. Immerhin 17 Prozent aber waren unter dreißig. Und der Trend, daß sich jüngere Frauen sterilisieren lassen wollen, nimmt deutlich zu, beobachtet man in Brandenburg. Wichtiges Ergebnis der Erhebung aber auch: In keinem einzigen Fall wurde bisher der Verdacht bestätigt, daß Arbeitgeber die Frauen zur Sterilisation drängen. Gynäkologe Kopp sieht in dem Sterilisationsboom deshalb auch ein Zeichen „dieses verdammten vorauseilenden Gehorsams, den wir in der DDR gelernt haben“. Kopp vermutet noch einen anderen Grund: Die Frauen in der ehemaligen DDR hätten ein weniger ausgeprägtes Körperbewußtsein als ihre Schwestern im Westen. Mit sehr viel weniger Bedenken ließen sie Eingriffe in den eigenen Körper zu.
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