Endlich Ruhe vor den Behörden

■ Nach 18 Jahren wird ein Niedersachse, der vor der Bundeswehr nach West-Berlin flüchtete, als Kriegsdienstverweigerer anerkannt / Bundeswehr drängt Altfälle zur Rücknahme der Verweigerung

Als Markus J. im November letzten Jahres ein Einschreiben in den Händen hielt, bekam er plötzlich rasendes Herzklopfen. Der Absender verhieß nichts Gutes. Doch nachdem der freiberufliche Übersetzer den vierseitigen Brief gelesen hatte, mußte er nur „noch grinsen“. Lapidar teilte ihm darin die Kammer für Kriegsdienstverweigerung bei der Wehrbereichsverwaltung II in Hannover mit, daß er nunmehr berechtigt sei, den „Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern“.

Ein Satz, auf den Markus J. achtzehn Jahre lang gewartet hatte. Am 7. Mai 1975 glaubte der Prüfungsausschuß beim Kreiswehrersatzamt in Lüneburg, noch ganz anders entscheiden zu müssen. Der Antragsteller, so das vierköpfige Gremium mit einem Oberstaatsanwalt an der Spitze, werde nicht daran zerbrechen, „wenn er als Soldat einmal einem Gegner mit der Waffe entgegentreten würde“. Markus J., damals noch Gymnasiast in Wolfsburg, entschied sich jedoch anders: Er legte Widerspruch gegen die Entscheidung ein und ging schließlich 1980 zum Studium nach West-Berlin. Dem Einflußbereich der Bundeswehr blieb er damit bis zur Wiedervereinigung im Oktober 1990 entzogen – bis dahin galt in der geteilten Stadt alliiertes Sonderrecht.

Markus J. ist kein Einzelfall. Von „einigen hundert Betroffenen“, die vor langer Zeit auf der Flucht vor der Bundeswehr nach West-Berlin kamen, weiß Christian Herz von der „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär“ zu berichten. Solche Zahlen will das Bundesamt für den Zivildienst in Köln nicht bestätigen. Statistiken, die nach dem Alter der Antragsteller und der Dauer des Verfahrens unterscheiden, werden hier nicht geführt. Von einer „Welle der Nachbearbeitung“ für Altfälle aus Westberlin könne keine Rede sein, meint der Sprecher des Bundesamtes, Rüdiger Löhle. Betroffene wie Markus J. „dürften eher die Ausnahme sein“. Juristisch seien die Kammern bei den Wehrbereichsverwaltungen ohnehin verpflichtet, die einmal eingelegten Widerspruchsverfahren zu Ende zu führen. Es sei denn, „der Antragsteller verzichtet selbst darauf“, wie Löhle erklärt.

Eine Praxis, bei der die Kreiswehrersatzämter offenbar gerne nachhelfen. In letzter Zeit häuften sich die Fälle von Betroffenen, die mit „Zuckerbrot und Peitsche“ unter Druck gesetzt werden, wie Herz beobachtet hat. Etwa im Fall von Hans-Dieter N. (Name von der Redaktion geändert), Jahrgang 1965. Ihm teilte das Berliner Kreiswehrersatzamt in einem Schreiben mit, daß er mit einer „Heranziehung zum Grundwehrdienst“ nicht mehr zu rechnen habe, wenn er seinen Antrag als Kriegsdienstverweigerer innerhalb von zwei Wochen zurückziehe. Andernfalls, so die Behörde, werde er „demnächst gemustert“. Hinter solchen Drohgebärden vermutet Herz ein bewußtes Vorgehen: „Jeder Antragsteller weniger bedeutet eine Entlastung der Statistik.“ Bundesweit waren, so die letzten offiziellen Zahlen des Bundesamtes vom November 1993, rund 108.000 Männer in der Bundesrepublik als Kriegsdienstverweigerer anerkannt.

Für Markus J. bleibt die Entscheidung der Kammer aus Hannover ein nachträglicher Sieg. Schließlich war das Gremium, wie es ihm schriftlich attestierte, insbesondere von seiner ausführlichen und persönlichen Begründung angetan, die er seinem Widerspruch zugrunde gelegt hatte. Folgen für sein weiteres Leben hat die Entscheidung nun nicht mehr. Der Zivildienst bleibt dem heute 37jährigen erspart, versichert der Sprecher des Bundesamtes, Löhle. Schließlich habe er die gesetzliche Obergrenze von 32 Jahren, mit der Männer zum Ersatz- und Wehrdienst gezogen werden können, schon lange überschritten. Severin Weiland