Wahlkampf all'italiana

Gestylte Matadoren und Heimwerker im Rennen um Italiens Parlamentssitze / Auftakt im Norden Italiens, wo alle Welt die „Ligen“ vorne sieht  ■ Aus Mailand Werner Raith

Nein, o Gott, nein“, Tullia D'Ambrosio hält sich ihr Taschentuch vors Gesicht, „neinneinneinnein“, und nochmals: „großer Gott, nein.“ Da eine verbale Steigerung nicht mehr möglich ist, helfen der „gewachsenen Liga-Frau“ (Eigenbezeichnung) nur noch Tränen, um der Verzweiflung Ausdruck zu geben – und die fließen reichlich in der überfüllten Halle der Fiera, wo sich oben auf dem weit entfernten Podium und unter dem übermächtigen Fernsehschirm der unumstrittene Matador des Nordens, Umberto Bossi, durch ein für ihn ungewöhnliches Unterfangen kämpft: Er hat ein Manuskript vor sich liegen. Normalerweise spricht der Volkstribun des sezessionistischen Nordstaatlerbundes „Lega Nord“ frei und mit erhobenem Zeigefinger zu seinen Lombarden und unterstreicht seine rotzige Sprache mit ebensolchen Gesten. Seit der Wahlkampf aber Ende Februar so richtig begonnen hat, scheint er sich bestimmte Formulierungen doch lieber aufzuschreiben – schließlich hat er es, ebenfalls erstmals in der noch nicht einmal zehnjährigen Geschichte seines Bundes, mit Koalitionspartnern zu tun, und da muß man auch nachher noch wissen, was man vorher sagen wollte. Tullia sieht die Verkrampfung ihres Champions als „grauenhaftes Zeichen“ an – „er ist krank, Umberto ist krank“, flüstert sie, als enthülle sie ein Staatsgeheimnis, „sieh doch, wie bleich er ist.“

Da hat sie recht – der Mann sieht schlecht aus, grau im Gesicht. Die unrasierten Wangen, einst Zeichen protziger Männlichkeit (Wahlspruch: „Die Liga hat 'nen Steifen!“), erwecken derzeit eher den Eindruck eines Rekonvaleszenten. „Dem seine Magengeschwüre möcht' ich nicht haben“, frotzelt ein mittelbarer Gegner – Kandidat der „Fortschrittlichen“ im benachbarten Wahlkreis – und kokettiert unverhohlen damit, daß Bossi „ja unbedingt gewinnen muß, ich aber nicht“.

„Lauter Nobodies“, urteilte nach der endgültigen Listenfestlegung die Mailänder Tageszeitung il Giornale über die antretenden Liga-Gegner. il Giornale allerdings steht offen der Liga Nord nahe, seit ihr Eigner, der Medienzar Silvio Berlusconi, einen seit langem ligahörigen Mann als Chefredakteur einsetzte – und damit ein Versprechen einlöste, das er Bossi als Gegenleistung dafür gegeben hatte, zwischen dessen Ligen und seiner „Forza Italia“ einen Wahlpakt besiegeln zu können. Berlusconi weiß, daß er gegen die Liga im Norden keine Chance hätte. So suchte er aus der Not eine Tugend zu machen, stellte im Norden nur schwache Kandidaten gegen die Liga auf und hofft seither, daß ihn Bossi nicht ausgerechnet in der eigenen Heimat unmöglich macht.

Aufgrund der Absprache konnte sich Berlusconi selbst in Mailand gar nicht aufstellen lassen und ist in den Wahlversammlungen nur per Video präsent – ein gewagtes Spiel. Denn nach erster Euphorie mit prallgefüllten Sälen auch ohne die physische Präsenz Berlusconis läßt das Interesse spürbar nach, obwohl die Säle meist überwiegend mit Komparsen besetzt sind, die unentwegt „Cavaliere, Cavaliere“ skandieren. Erste Quittungen für seine nur mediale Anwesenheit hat Berlusconi schon erhalten. In Rom liegt sein direkter Gegenkandidat, Haushaltsminister Spaventa, vom „Progressiven Block“, in Umfragen vorne; ein Großteil der Befragten sagt ausdrücklich, daß sie künftig lieber „Minister zum Anfassen und nicht hochgestylte Mattscheibenmatadore“ wünschen.

Diese Umfrage wird just während Bossis Rede bekannt, und sofort rückt der Lombarden-Liebling seine Redeaufzeichnungen beiseite und drischt kräftig auf den ungeliebten Partner ein. Berlusconi habe man, brüllt er, für einige Sekunden wieder ganz der Alte, „eben schlucken müssen, als Kröte“, weil einerseits die Liga als reiner Nordbund landesweit nur auf 12 bis 15 Prozent Abgeordnete käme – „und andererseits vor allem, um zu verhindern, daß sich der Berlusconi mit der sogenannten moderaten Mitte zusammentut, die nur aus recycelten Christdemokraten und Sozialisten, also der Nomenklatur der Korruption schlechthin, besteht.“ Daß sich Berlusconi im Zentrum und im Süden mit den Neofaschisten der „Alleanza Nazionale“ zusammengeschlossen hat, stört Bossi überhaupt nicht – „das ist Berlusconis Bier, nicht meines“. Mit dem Neofaschistenführer Gianfranco Fini hat Bossi trotz dessen glatter „Wende weg vom Faschismus hin zur Partei einer demokratischen Rechten“ (Fini-Eigenlob) nichts am Hut; eine Regierungsbildung aus „Forza“, „Liga“ und „Allianz“ ist unmöglich, und das unterstreicht Bossi immer wieder: „Einmal Faschist, immer Faschist“, schreit er, „Fini ist und bleibt einer, mit ihm nie, nie, nie!“ Das gelte im übrigen auch für die Ex-Kommunisten sowohl der Mehrheitsgruppierung „Demokratische Partei der Linken“ wie der „Rifondazione comunista“, die nur den Namen geändert hätten, tatsächlich aber „ewige Statalisten bleiben werden, unausweichlich“. Das Kunstwort „Statalist“, im Deutschen etwa „Assistentialist“, verwendet Bossi als größtmögliche Beschimpfung an diesem Abend 34mal – es steht bei ihm für alles, was er nicht mag, von Subventionen bis zum Klientelismus, von der Korruptionswirtschaft bis zur „von oben verordneten multiethnischen Gesellschaft und dem ausbeuterischen Zentralismus“.

Das kommt an. Schläge auf die Altparteien sind noch immer in, und die Hiebe auf die zentralistischen Neofaschisten gehören zum Standardrepertoire jedes ordentlichen Liga-Fans. Der Applaus bei derartigen Ausfällen überdeckt alles – auch und vor allem die Frage, die sich eigentlich automatisch stellt: Wie denn ein Pakt aussehen soll, wenn die Liga unbedingt regieren will, Fini aber nicht in eine Koalition darf und ebensowenig das moderate Zentrum der ehemaligen „Democrazia Cristiana“, der Sozialisten, Sozialdemokraten, Liberalen und Republikaner. „Ein glatter Selbstmord“, brummelte der Liga-Ideologe Gianfranco Miglio, als die Ligen die „strategische Allianz“ mit Berlusconi eingingen. Heute, bei seinen eigenen Wahlversammlungen, klingt das schon optimistischer: „Das Volk der Lumbardei ist gefestigt genug, auch eine anormale Koalition auszuhalten.“

Angesichts solcher Unvereinbarkeiten könnten sich die Gegner, also die Mitte und vor allem der Linksblock, eigentlich freuen. Aber statt die Widersprüche offenzulegen, verwickeln sich die Linksdemokraten mit den Vettern von der „Rifondazione Comunista“, die Grünen und die industrienahe „Demokratische Allianz“ mit der Antimafiabewegung „la Rete“ um alles und jedes in lächerliche Grabenkämpfe. Die durchaus realen Chancen, in so mancher Hochburg der Ligen Erfolge zu erzielen, werden in den Hauptquartieren der „Fortschrittlichen“ kaum wahrgenommen, und so kandidiert kaum ein profilierter Politiker aus dem Kartell der „Progressisti“ im Norden – daß die Liga dort das Rennen macht, gilt als so ausgemacht, daß sich allenfalls besonders populäre Persönlichkeiten noch Hoffnungen machen können.

Nando Dalla Chiesa ist so einer: der 40jährige Soziologieprofessor kandidiert im Wahlkreis Milano 9 mit „la Rete“ für die Fortschrittlichen und hat sein Charisma bereits bei der Bürgermeisterwahl im November mit über 40 Prozent Konsens unter Beweis gestellt. Dazu hat er auch noch begonnen, eine gewisse Altlast abzuwerfen – die seines Freundes und „la Rete“- Begründers Leoluca Orlando aus Palermo. Der hat zwar in seiner sizilianischen Heimat derzeit Popularitätswerte wie kein anderer Nachkriegspolitiker jemals zuvor und wurde voriges Jahr mit 75 Prozent gleich im ersten Wahlgang zum Bürgermeister gewählt. Doch Nando Dalla Chiesa, der selbst bisher kein politisches Amt bekleidet hat, erkennt seit einiger Zeit den Verschleiß des 47jährigen Rechtsprofessors: Mit seiner Umtriebigkeit und wieseligen Präsenz in allen Talkshows im In- und vor allem im Ausland kommt Orlando zusehends die Bürgernähe abhanden, wird er wie Berlusconi immer mehr vom „anfaßbaren Helfer“ zum elektronischen Pünktchen.

Für viele Bürger, denen Orlando in den letzten Monaten mitunter durch Arroganz, übernervöse Reaktionen und Verwurstelungen seiner Argumentation nicht mehr gefällt, ist Dalla Chiesa denn auch die wirkliche Hoffnung der „Rete“ und der aussichtsreichste Kandidat für das Amt eines Sozial- oder Bildungsministers in der nächsten Regierung.

Dalla Chiesa setzt viel mehr als Orlando auf hausgemachte Überzeugungsarbeit. Schon von seiner Mentalität her eher ein Softie, der seine Gegner nie überbrüllt oder nicht ausreden läßt, kommt er in den von ihm bevorzugten kleinen Sälen fast so wie ein beruhigendes Kuscheltier an, das man umarmen und in dessen Anwesenheit man sich sicher fühlen kann. Weder die große Wirtschaftskrise, die Berlusconi mit leichter Hand in fünf Minuten zu erledigen verspricht, behauptet er lösen zu können noch die Frage regionaler Sonderinteressen, mit denen Bossi auf Rom einschlägt. Ehrlich, wie er ist, gesteht er seinem siegreichen Bürgermeister-Konkurrenten Marco Formentini zu, daß der den „Liga“- Gedanken soweit irgend möglich „ins Positive wendet“, zumindest aber nicht zu den Krawallbrüdern rassistischer oder antisüdstaatlerischer Lombardenvereinigungen gehört. „Doch das reicht eben nicht aus“, sagt er, „weil der Bürgerkonsens, den ein Mensch bei der Wahl bekommt, auch von diesem persönlich eingelöst werden muß, ohne daß er durch Parteiräson zu anderen Verhaltensweisen gezwungen wird.“ Will heißen: Wer mich wählt, weiß, daß er danach auch mich als Abgeordneten hat, und nicht eine Partei.

Dalla Chiesas Klientel sind nicht die verängstigten Mittelständler Bossis und die Aufsteiger Berlusconis, eher schon ältere Mütterchen, Rentner, Randgruppenangehörige, aber auch eine ansehnliche Anzahl jüngerer Leute, Studenten vor allem und Schüler: Ihnen liegt die undogmatische Art, die Ausdauer, mit der „Nando nostro“, unser Nando, auch noch Stunden nach der Versammlung mit den Leuten zusammensitzt. „Ich bin lieber mit Fantozzi zusammen als mit einem Cavaliere“, sagt Dalla Chiesa sanft. Dabei kandidiert „Fantozzi“ höchstpersönlich: Der Schauspieler Paolo Villaggio, der als „Fantozzi“ den kleinen, von Schicksalsschlägen gebeutelten Büroangestellten unsterblich gemacht hat, tritt in Genua für die winzige Radikale Partei an. Ohne Aussichten zwar, aber „als Symbol dafür, daß wir Alten und Nie- ernst-Genommenen auch noch da sind“. Aber selbst für einen populären Star wie ihn ist der Zugang zur Welt der Politprofis nicht einfach: Villagio bekam in seinem Wahlkreis kaum die 250 Unterschriften zusammen, die er für die Aufstellung benötigte: „Entweder die Leute hatten schon für jemand anderen unterschrieben“, berichtet er in seiner Wahlrede, „oder sie hielten meine Kandidatur für einen Witz, oder aber sie hatten etwas an der Radikalen Partei auszusetzen.“ Am Ende merkte er, daß man sich da „eher als Heimwerker betätigen muß, weil in Italien Überzeugungsarbeit bis heute weniger mit Argumenten läuft“ – er gab kurzerhand jedem, der für ihn unterschrieb, eine Flasche Bier aus. Da hatte er in den Hafenkneipen seiner Heimatstadt innerhalb weniger Stunden seine 250 Unterschriften gesammelt. Wahlen all'italiana.