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„Weiß nicht. Hatte Lust dazu.“

■ Beengte Wohnverhältnisse, Spannungen in den Familien, Bindungslosigkeit und fehlende Perspektiven: Gewalt unter Kindern und Jugendlichen hat viele Ursachen Von Paula Roosen

Dennis, 16 Jahre alt, zeigt auf seine blau-grüne Bomberjacke und grinst triumphierend: „Mir wollte mal einer meine Jacke abzocken. Hat aber nicht hingehauen.“ Der andere sei wohl im Krankenhaus gelandet. Es war halt nicht mehr als ein üblicher Kräftevergleich unter Heranwachsenden. Dennis und Tobias haben mit den rauhen Sitten in ihrem Hamburger Stadtteil keine Probleme. Gewaltattacken? „Kein Thema“, meinen die beiden Wilhelmsburger.

Dennis hat sich nach der Schule als Tischler versucht, ist aber über die Probezeit nicht hinausgekommen. Seit zwei Monaten lernt er Metallschlosser. Er kann sich nicht vorstellen, etwa auf dem Weg zur Disco im Haus der Jugend angegriffen zu werden. „Bisher sind wir immer heil nach Hause gekommen“, ergänzt sein Freund Tobias. Dennis hat keine Waffe. Er trägt nicht einmal ein Messer bei sich. „Ich verlaß' mich auf das hier“, sagt er und läßt seine Fäuste spielen. Tobias, der gerade den Hauptschulabschluß nachgemacht hat, ist da vorsichtiger: Er geht regelmäßig zum Tai-Boxen, einer Mischung aus Karate, Boxen und Judo.

Ob und in welchem Ausmaß sich die Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen verändert hat, läßt sich nicht definitiv belegen. Wenn die Kriminalstatistik steigende Täterzahlen aufweist, dann auch, weil die Entwicklung der jugendlichen Aggressionen in den letzten Jahren sensibler beobachtet wurde. Dementsprechend werden mehr Vorkommnisse gemeldet. Folgt man dem Bielefelder Soziologen Jürgen Mansel, könnten die Klagen über die brachiale Gewalt an den Schulen auch ein Zeichen dafür sein, daß die Lehrer offenbar nicht mehr wissen, was sie machen sollen.

Unstrittig ist, daß der altbekannte Vandalismus an den Schulen neue Formen - auch körperlicher - Gewalt angenommen hat. Ungeschriebene Gesetze wie der Verhaltenscodex, einen Besiegten nicht weiter zu traktieren, wurden außer Kraft gesetzt. „Wenn ich nach der Pause hochkomme und sehe, wie vor dem Klassenraum einer liegt und wieder und wieder getreten wird, dann möchte ich am liebsten selbst zuschlagen“, berichtet eine Lehrerin. Mit äußerster Beherrschung rede sie dann auf die Prügelnden ein, um sich am Ende mit sexuellen Zoten vulgär beschimpfen lassen zu müssen.

In einer von der Schulbehörde durchgeführten Untersuchung haben 26 von 169 befragten Hamburger Schulen angegeben, der Schulalltag sei durch Gewaltausbrüche erheblich belastet. Dieser Gesamteindruck entsteht oft durch die Handlungen einzelner Schüler. Es beginnt schon bei den Kleinsten in der Grundschule: „Mein siebenjähriger Sohn wurde auf dem Schulhof vom Fahrrad gezerrt “, erinnert sich eine Lehrerin, die selbst an einer Berufsschule unterrichtet. Seitdem habe er Angst vor den Größeren. „Wir stecken dein Haus an“, so wurde eine ihrer Kolleginnen von einem halbwüchsigen Schüler bedroht.

Helga Hirsch vom Schülerclub in Eppendorf, in dem nachmittags Schulkinder betreut werden, schildert ihre Beobachtungen: „Gefrustet von der Zwangseinrichtung Schule kommen die hier an, verhauen den Nächstkleineren und pöbeln uns an.“ Die Erzieher schicken die Kinder dann in einen „Bewegungsraum“, in dem sie sich austoben können. „Mittags marschierte neulich ein Fünfzehnjähriger auf dem Tisch umher und trat in die Teller der anderen.“ Da habe sie „Bärenkräfte aufbringen müssen, um ihn hinauszuwerfen“. Seitdem gebe es zwar keine Probleme mehr, aber das könne doch nicht die Methode sein, zweifelt die Erzieherin.

Eine drastische Zunahme der Bewaffnung der Schüler konnte indes in der Untersuchung der Schulbehörde nicht nachgewiesen werden. Dabei ist es kein Geheimnis, daß unter Jeansjacken verborgene Gasrevolver an einigen Schulen keine Seltenheit sind.

„Der Bewaffnungsgrad der Jugendlichen hat sich verändert“, sagt Thomas Zimmermann, Mitarbeiter im Haus der Jugend Farmsen, „Eine wachsende Minderheit ist mit Messern, scharfen Pistolen und Reizgas ausgerüstet.“ Oft ginge es den jungen Besuchern jedoch nur darum, sich den „täglichen Kick“ abzuholen: Den offensichtlich linkslastigen Sozialarbeiter mit einem geschmetterten „Heil Hitler“ zu begrüßen. „Die wollen mich eben auf die Palme zu bringen“, weiß Zimmermann, der sich dann beim Tischtennis abreagiert.

„Gewalt ist das Thema, bei dem im Unterricht plötzlich alle hellwach sind“, hat ein Handelsschullehrer beobachtet. „Ob es die Schlägerei zweier Jugendbanden auf dem Gänsemarkt oder das Unbehagen nachts auf einigen S-Bahnhöfen ist, fast alle haben etwas dazu beizutragen.“ Die Behörde führt als Ursachen für die Gewaltbereitschaft hauptsächlich Gründe an, die außerhalb des schulischen Einflußbereichs liegen: Spannungen in den Familien, aus denen die Kinder und Jugendlichen kommen, arbeitslose Eltern und beengte Wohnverhältnisse, Rücksichtslosigkeit der Schüler und mangelndes Unrechtsbewußtsein.

Schon Kleinkinder lernen den Unterschied zwischen sicheren und unsicheren Bindungen kennen. Wer die Erfahrung von Verläßlichkeit und Geborgenheit nicht macht, reagiert vielleicht später beim kleinsten Frust mit ungebremsten Ausbrüchen. Für die Entwicklungspsychologen entsteht die Neigung zur Gewaltanwendung bereits im Krabbelalter. Oft werden die Grundsteine für spätere Heftigkeit auf noch brutalere Art in der Familie gelegt: „35 Prozent der Kinder in Lurup werden zu Hause geschlagen oder sogar mißhandelt“, sagt Hartmut Hoins, der zuständige Sozialdezernent. „Dieser Stadtteil ist da mit Sicherheit kein Einzelfall.“

Zu Recht kritisiert der Kinderschutzbund, daß der von der Bundesregierung vorbereitete Entwurf zur Änderung des Kinderschutzparagraphen im Bürgerlichen Gesetzbuch nicht ausreicht. Die Formulierung „körperliche und seelische Mißhandlungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“ sollte auf Vorschlag der Kinderschützer durch den einfachen Nenner „Kinder sind gewaltlos zu erziehen“ ergänzt werden.

Hinter vielen Gewaltformen stecken vor allem Angst und Bindungslosigkeit, hat der Luruper Erziehungshelfer Wolfgang Westphal in seiner Arbeit erfahren. „Fragt man die Kids, warum sie blindlings zuschlagen, lautet die Antwort oft: ,Weiß nicht, hatte Lust dazu'.“ Erst im zweiten Anlauf beschweren sich die Kinder, niemand habe Zeit für sie, sie seien den Erwachsenen völlig gleichgültig. Dies treffe besonders auf die Scheidungswaisen zu, die nach der Trennung der Eltern nach für sie unbeeinflußbaren Besuchsregelungen hin- und hergereicht werden. Der Psychologe aus der Luruper Beratungsstelle muß oft lange graben, bis er an die inneren Werte der kleinen Klienten herankommt. „Was wünschst du dir?“ fragt er die Kinder, „wonach sehnst du dich?“. Die häufigste Antwort: „Einen Dinosaurier für 16 Mark.“

Neulich stand ein Junge in der Beratungsstelle, der hatte einen Brief seiner Schule dabei. Der Sechsjährige hatte zu seiner Lehrerin „alte Votze“ gesagt, wußte aber nicht genau, was das genau bedeutet und warum sich plötzlich alle so aufregen. Die Sprache, die verbale Gewalt, habe sich massiv verändert. „Geil war früher etwas Sexuelles und meint heute nicht mehr als prima. Oder etwa Arschloch, ein klassisches Schimpfwort, ist nicht mehr als der mühsame Versuch eines Jugendlichen, mit jemand anderem Kontakt aufzunehmen.“

Kinder und Jugendliche treffen heute seltener in Vereinen oder anderen festen Zusammenhängen aufeinander, sind mehr auf sich selbst angewiesen als früher. Ihre Träume haben kaum noch Erfüllungschancen. Wer noch vor zehn Jahren durch die Schulzeit einigermaßen durchkam, hatte Aussicht auf eine Lehrstelle und einen darauffolgenden Arbeitsplatz. Heute fragen sich auch gute Schüler, wo sie den Einstieg ins Arbeitsleben finden können. Die alte Gleichung, Fleiß und Ausdauer bringen Status und den entsprechenden Wohlstand, geht nicht mehr auf.

Für den Soziologen Jürgen Mansel ist der tägliche Frust als Entstehungsbedingung für Gewalt deshalb programmiert. Die Jugendlichen erhoffen sich von der Institution Schule soziale Kontakte, die sie sonst nicht herstellen können. Der Unterricht dient lehrplangemäß der reinen Wissensvermittlung. Probleme der Heranwachsenden bleiben bei übervollen Curricula notwendigerweise auf der Strecke. „Schüler brauchen mehr Gestaltungsmöglichkeiten als das Füttern der Fische im klasseneigenen Aquarium.“ Die Schule müsse sich die reale Welt anschauen, lautet die pauschale Forderung Mansels. Er verweist auf die Gesamtschule in Steilshoop, die auch nachmittags für die Schüler geöffnet ist. So finden die Kids in dem zubetonierten Hochhausviertel eine Ecke für sich, als Treffpunkt und zum Austoben.

Die Lehrer im Grundschulbereich der Gesamtschule Horn haben das Jammertal bereits durchschritten: An die Stelle des Lamentierens über Gewaltphänomene sind praktische Schritte im Schulalltag getreten. „Wir versuchen, den Kindern in den ersten vier Schuljahren eine Streitkultur mit auf den Weg zu geben“, erklärt Schulleiter Reinhard Kühl. Die Schüler lernen, Auseinandersetzungen nicht durch Zurufe zu verschlimmern, keine Banden zu bilden und gegenüber Schwächeren keine unverhältnismäßig harten Schläge auszuteilen. „Wenn einer verloren hat, hat er verloren“, so Kühl, „aber das müssen die Kinder erst begreifen“. Einzelne Kinder werden vor den Augen aller mit kleinen Urkunden für besonders faires Verhalten ausgezeichnet. Das hat selbst den achtjährigen Leo beeindruckt, der über Monate auf dem Schulhof für Tränen und blaue Flecken sorgte. „Wenn mich jetzt zwei Mädchen anspucken, dann schlage ich nicht mehr zu“, sagt Leo. Kühl hat dem Jungen erläutert, was Vergeben bedeutet. Der hatte das Wort nie zuvor gehört.

Um den Kontakt und das Verständnis zwischen jüngeren und älteren Schülern zu fördern, wurden in der Grundschule sogenannte Familien gegründet. Zu einer Familie gehören jeweils acht Kinder aus verschiedenen Klassenstufen. Die Kleinen erfahren auf diese Weise, daß „man von den Großen nicht nur auf die Mütze bekommt“, wie der sechsjährige Max sich ausdrückt, und die Viertklässler sehen die Anfänger nicht nur als „blöde Knirpse“ an. Die Gruppen, je acht Schüler, bekommen Aufgaben gestellt, die sie gemeinsam lösen müssen.

Die, die Glück haben, sehen sich beim pädagogischen Mittagstisch wieder. Diese Einrichtung der Behörde gibt es nur an ausgesuchten Hamburger Schulen. Nach dem Unterricht können die Kinder dort nicht nur essen, sondern auch Hausaufgaben machen, basteln oder an dem eigens eingerichteten Judokursus teilnehmen. Wegen fehlender Hortplätze würden die Kinder sonst bereits vormittags ohne einen Pfennig Geld in der Tasche auf der Straße landen. Höchstens einmal pro Woche reicht es bei den Nachkommen armer Familien für pommes frites. „Wir haben einen Jungen dabei, der wollte unbedingt Blut sehen“, erinnert sich die Erzieherin Lilli Gossmann. Die anderen Jungen hatten das Nachsehen. „Wer sich wie Jesus verhält, stirbt“, habe der Lockenkopf ihr erklärt. Mit dem neuen Judounterricht habe sich die Lage entspannt.

Ein Blick auf die Sparpläne im Bereich der Jugend- und Sozialpolitik macht die Notwendigkeit solcher wenig kostspieligen „Hausmittel“ deutlich. Für große Jugendprojekte und eine kinderfreundliche Umgestaltung der Städte werden in absehbarer Zeit keine Haushaltsmittel zur Verfügung stehen. Die Frage der Entwicklungspsychologin Heidi Keller, was es für einen Sinn mache, „Kindern das Kriegsspielzeug zu verbieten, wenn wir ihnen keine Attraktionen anzubieten haben“, wird für lange Zeit unbeantwortet bleiben.

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