: Versuchte Nötigung eines Verfassungsorgans
Das Weißbuch der Bundeswehr 1994 steigt aus den Niederungen der deutschen Provinz zu geopolitischen Höhenflügen auf / Krisenreaktionskräfte zum weltweiten Einsatz als neue Elitetruppe genießen Priorität ■ Von Jürgen Gottschlich
Noch ist, um gleich in den einschlägigen Jargon der Hardthöhe einzusteigen, für Volker Rühe der „worst case“ nicht abgewendet. Sollte das Bundesverfassungsgericht in diesem Jahr zu der Auffassung gelangen, daß vor einem bewaffneten Einsatz out of area der Nato eine Änderung des Grundgesetzes notwendig ist, kann er sein Weißbuch 1994 und alle damit zusammenhängenden, längst begonnenen Planungen auf den Müll werfen. Denn das jetzt der Öffentlichkeit vorgelegte „Weißbuch zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr“ steht und fällt mit dem Plazet für den weltweiten Einsatz deutscher Soldaten.
Der Schlüsselsatz des gesamtem Kompendiums steht auf Seite 89 unter der Überschrift „Die Bundeswehr der Zukunft“: „Die Nachfolgend erläuterten Planungen werden insoweit erst nach dieser Klarstellung (der Verfassung) zur Ausführung kommen.“ Bereits ein paar Seiten zuvor, bei der Erläuterung der „Grundzüge und Perspektiven deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ klingt das entscheidende Dilemma Rühes an. Die Bundesregierung, heißt es da, ist bereit, Mitverantwortung und Mitwirkung im Rahmen der UN zu übernehmen. „Die Klarstellung der Verfassungsgrundlagen für alle Bundeswehreinsätze liegt daher im Interesse der Berechenbarkeit deutscher Außen- und Sicherheitspolitik und im Interesse der Bundeswehr.“
Warum, so muß sich da jeder unvoreingenommene Leser fragen, wurde mit der Formulierung des Weißbuchs dann nicht gewartet, bis das Bundesverfassungsgericht entschieden hat? Warum eine grundlegende Festlegung deutscher Außen- und Militärpolitik, bevor klar ist, ob die Verfassung die von Kohl und Rühe vorgegebene Linie überhaupt trägt? Immerhin ist nicht ausgeschlossen, daß der Zweite Senat in Karlsruhe zu dem Schluß kommt, die Verfassung muß ergänzt werden, und das ginge bekanntlich nur mit der Opposition.
Laut Spiegel soll Außenminister Kinkel genau aus diesen Gründen darauf gedrängt haben, die geballten Absichtserklärungen um ein Jahr zu verschieben, doch vergebens. Für Rühe hat das Weißbuch offenbar die gleiche Funktion wie der Einsatz in Somalia. Es soll eine politische Situation vorweggenommen, in diesem Fall herbeigeschrieben werden, die so noch nicht existiert. Bösartig interpretiert, könnte man sagen, das Weißbuch kommt dem Tatbestand der Nötigung eines Verfassungsorgans nahe, da Karlsruhe drastisch vorgeführt wird, welche verheerenden Auswirkungen eine Anti-Rühe- Entscheidung hätte.
Vielleicht lockt die Karlsruher Richter aber gerade diese Aussicht. Denn bleibt es bei der konsequenten Beschränkung der Bundeswehr auf die Landesverteidigung, gibt es auch nach Auffassung der Bundesverteidigungsministers für die Bundeswehr nicht mehr viel zu tun. „Deutschland hat von dem revolutionären Wandel in Europa am meisten gewonnen. Der sicherheitspolitische Umbruch hat die strategische Lage Deutschlands grundlegend verbessert. Das Risiko eines großen Krieges in Europa besteht zur Zeit kaum.“ Das Fazit der Bedrohungsanalyse nach herkömmlichem Muster ist eindeutig: Wir sind von Freunden umzingelt. Für die Landesverteidigung ist mehr als ausreichend gesorgt. Perspektivisch würde es reichen, wenn die Friedensstärke der Bundeswehr wesentlich geringer als die jetzt vorgesehenen 370.000 Mann wäre und statt dessen im höchst unwahrscheinlichen Fall einer Bedrohung deutscher Grenzen Reservisten herangezogen würden, die nach entsprechender Vorwarnzeit mobilisiert werden könnten. Da drängt sich das Bild von der Miliz auf, die, mit der Knarre im Schrank, mobilisiert wird, wenn tatsächlich Gefahr für die „territoriale Integrität der Bundesrepublik“ drohte.
Doch das Weißbuch dient unter anderem dazu, solche Ideen erst gar nicht aufkommen zu lassen. Statt Planungen für eine rein auf Defensive angelegte Landesverteidigung überhaupt zu erörtern, fällt laut Rühe jetzt „Deutschland die Chance zu, ein mitbestimmender Faktor für Frieden und Fortschritt in Europa und in der Staatengemeinschaft zu werden“. Kategorisch wird da dekretiert: „Es muß sich seiner gewachsenen Verantwortung stellen.“ Deshalb sieht das Ergebnis der Lage-Analyse letztlich auch ganz anders aus:
„Risikoanalysen über künftige Entwicklungen müssen von einem weiten Sicherheitsbegriff ausgehen. Sie dürfen sich nicht auf Europa beschränken, sondern müssen die Interdependenz von regionalen und globalen Entwicklungen berücksichtigen. Sie müssen gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Tendenzen einbeziehen und in Beziehung setzen zur Sicherheit Deutschlands und seiner Verbündeten. Künftig gilt es, alle Faktoren in einer umfassenden politischen und strategischen Lagebeurteilung in Rechnung zu stellen.“
Ausgehend von diesem Credo dürfen die Analytiker der Hardthöhe ihren Blick endlich mal in die weite Welt schweifen lassen. Stellenweise liest sich das Weißbuch der Bundeswehr wie ein altes Produkt des „Club of Rome“. Da wird erläutert, daß in Weltgegenden, in denen große Teile der Bevölkerung am Rande des Existenzminimums leben, fruchtbares Land in Wüsten verwandelt wird – täglich werden fast 90 Tonnen fruchtbares Erdreich abgetragen –, täglich 40.000 Kinder an Mangelerscheinungen sterben und 40 Prozent der Weltbevölkerung bereits jetzt an Wasserknappheit leidet. Das mag in gewissen Kreisen eine aufklärerische Wirkung haben, genauso wie die Feststellung, daß die Industrialisierung und das Bevölkerungswachstum im asiatisch-pazifischen Raum auch zu globalen ökologischen Problemen führen wird, doch was soll die Bundeswehr dagegen tun?
Spätestens seit den Berichten der UN-Nord-Süd-Kommission, an der ja nicht zuletzt auch ein deutscher Politiker maßgeblich beteiligt war, gibt es vielfältige Debatten über die Notwendigkeit politischer Maßnahmen gegen das weltweite Armutsgefälle, die Schere zwischen Nord und Süd, die ökologischen Probleme und nicht zuletzt auch über das Problem des enormen Bevölkerungswachstums. Jetzt entdeckt das Bundesministerium der Verteidigung, daß „Deutschland aufgrund seiner Interessen, seiner Internationalen Verflechtungen und Verpflichtungen vom gesamten Risikospektrum betroffen ist“. Was folgt daraus: „Konfliktverhütung und Krisenbewältigung im erweiterten geographischen Umfeld – selbstverständlich unter einem völkerrechtlich legitimierten Mandat – müssen im Vordergrund der Sicherheitsvorsorge stehen.“
Aufgrund dieser Überlegungen hatte die Bundeswehr bereits Ende 1992 sogenannte Verteidigungspolitische Richtlinien entwickelt, die als zukünftige Aufgabe deutscher Soldaten die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“ beschrieben. Nach Informationen des Spiegel wurden diese und einige andere Formulierungen ähnlicher Güteklasse von der Redigiercombo des Auswärtigen Amtes, die die Abschnitte „Zur Lage und Konzeption deutscher Sicherheitspolitik“ gegenzeichnen mußten, rausgeschmissen. Ürbiggeblieben ist nun die wesentlich diplomatischere Wendung von der „weltweiten Achtung des Völkerrechts und eine auf marktwirtschaftlichen Regeln basierende gerechte Weltwirtschaftsordnung“ als eines der zentralen Interessen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Im Gegensatz zu der größtmöglichen Schwammigkeit dieser Formulierung glänzt Rühes Zukunftsvision durch größtmögliche Präzision in den Teilen, von denen noch gar nicht feststeht, ob er sie überhaupt umsetzen darf.
Die Einführung der „Krisenreaktionskräfte“, der deutschen schnellen Eingreiftruppe, die zukünftig die Elite in Wehr und Waffen darstellen soll, wird detailliert beschrieben. Diese Elite genießt Priorität bei der Beschaffung, denn „deutsche Soldaten in multinationalen Verbänden sind nicht zuletzt Repräsentanten des modernen Industriestaates Deutschland“. Deshalb hat die Aufrüstung der Krisenreaktionskräfte „erste Priorität“. Ihr hoher Stellenwert bestimmt „die Hauptanforderungen an die Ausrüstung der Bundeswehr“. Damit sollen möglichst schnell die praktischen Voraussetzungen für die Teilnahme der Bundeswehr an internationalen Missionen geschaffen werden. Nach Auskunft des Weißbuchs wird diese schnelle Eingreiftruppe „Schritt für Schritt aufgestellt und ausgerüstet“. Sie hat „Vorrang vor der gleichmäßigen Ausrüstung aller Truppenteile“. Das soll für alle Teilstreitkräfte gelten, also nicht nur für das Heer, sondern auch für Luftwaffe und Marine.
Rühe schafft es auf dem Papier sogar, seine bislang größte Niederlage in einen Sieg für die Zukunft umzuwandeln. Der von ihm zu Beginn seiner Amtszeit noch als Relikt der Aufrüstung zu Zeiten des Kalten Krieges gegeißelte Jäger90 rutscht im Weißbuch in die Kategorie erste Priorität für die Ausrüstung der „Krisenreaktionskräfte der Luftstreitkräfte“. Eine endgültige Entscheidung über Produktion und Beschaffung des Eurofighter 2000 soll 1995 fallen. Um auch zukünftig solch preiswerte Vögel entwickeln und bauen zu können, will Rühe sich an einer europäischen Rüstungsagentur beteiligen, die die Rüstungsindustrien aller WEU-Staaten zu einer konzentrierten Zusammenarbeit bringen soll.
Wo die hochfliegenden Pläne der Reiseagentur Bundeswehr aufhören und tatsächliche konzeptionelle Ideen für die Entwicklung von Sicherheit in Europa gefragt wären, verliert sich das Weißbuch vollends in Sprechblasen. Für die Diskussion um die zukünftige Rolle der Nato, der WEU und der KSZE gibt es kaum etwas her. Wo die Realität von gegenseitigen Blockaden und ungeklärten Erwartungen gekennzeichnet ist, kreieren die Formulierungskünstler der Bundeswehr das „Konzept sich gegenseitig verstärkender Institutionen“. Was sie wollen, sei ein „Stabilitätstransfer“ Richtung Osten – bloß wie der aussehen soll, sagen sie nicht. Da wird noch einmal das amerikanische Projekt der „Partnerschaft für den Frieden“ rekapituliert, aber die Frage, ob und bis wann die Nato tatsächlich nach Osten erweitert werden soll, bleibt ausgespart. Dann, und erst dann, hätten die Sicherheitsplaner tatsächlich etwas darüber sagen müssen, welchen Charakter die Nato zukünftig bekommen soll und was sie von der KSZE langfristig unterscheidet. Statt der Diskussion um die Aufnahme der osteuropäischen Staaten in die Nato – selbstverständlich unter Ausschluß Rußlands – wäre ja auch eine Aufwertung der KSZE zu einem Bündnis denkbar, welches die Sicherheit aller Bündnismitglieder garantiert und ethnische Konflikte um Selbstbestimmung und Grenzneudefinitionen löst, bevor sie gewaltsam ausgetragen werden.
Das will sich der Westen, insbesondere die bisherigen Nato- Staaten, aber nicht ans Bein binden. Statt dessen werden machtlose KSZE-Delegationen nach Georgien und Karabach geschickt, die dort nichts ausrichten können und deshalb von niemandem ernst genommen werden.
Soweit geht die neue Verantwortung Rühes denn doch nicht – da dürfen sich ruhig die Russen weiter drum kümmern, aus Sicht der Nato und des Bundeswehrweißbuches dürfen sie den Kaukasus auch getrost weiterhin als ihre Einflußzone betrachten. Trotz der vielen schönen Worte vom Stabilitätstransfer geht es doch bei dem Konzept der globalen Verantwortung um etwas ganz anderes.
Mit dem Ende des Kalten Krieges, der ja zumindest indirekt auch die südliche Hälfte der Hemisphäre in Rot und Blau aufgeteilt hat, wird die Nato nun umgebaut zum militärischen Arm des Clubs der Reichen.
Wer dazugehört, hat es tendenziell geschafft, und deshalb wollen die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Polen, Tschechien und Ungarn auch so schnell wie möglich Clubmitglieder werden. Für Rußland sieht es da ganz schlecht aus, eher könnte noch Japan einsteigen. Für Volker Rühe geht es dagegen darum, sicherzustellen, daß Deutschland in der Oberliga bleibt. Dazu gehört eben auch der deutsche Anteil am Kontingent der Truppen, die weltweit die Festung der Reichen bewachen sollen. Das wird das Bundesverfassungsgericht schon einsehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen