: Die autofreie Weltstadt: Berlin als Modell
■ Verkehrswende in deutschen Großstädten: Ein neues Buch analysiert am Beispiel unser aller neuen Hauptstadt die Möglichkeiten neuer Mobilität
Berlin am Ende der „Goldenen Zwanziger“: In der Welt- und Kulturstadt Europas waren die Nächte länger als die heutigen (oder die „Kreuzberger“), ein größerer Teil der öffentlichen Verkehrsmittel fuhr durchgehend auch des Nachts im Taktverkehr. Und: In Berlins öffentlichem Verkehrssektor wurden Gewinne eingefahren. Verluste entstanden erst, als der öffentliche Verkehr mit unterirdisch geführten Bahnen in den Keller der Stadt verbannt, die oberirdischen Flächen den Kraftfahrzeugen zur Verfügung gestellt und der Individualverkehr vorherrschend wurden.
„Weltstadt ohne Auto“ lautet der Titel eines neuen Buchs von Winfried Wolf, der als Verkehrsexperte durch die Veröffentlichungen „Eisenbahn und Autowahn“, „Sackgasse Autogesellschaft“ und weiterer Titeln bekannt wurde. Als er bereits im vergangenen Jahr eine Studie zur Zielsetzung einer autofreien Stadt veröffentlichte, schien das nur von regionaler Bedeutung zu sein (“Die autofreie Stadt. Der Autowahn am Beispiel der Stadt Marburg an der Lahn“). Diese Einschränkung trifft nun in keiner Weise mehr auf seine neue Arbeit zu, die von einer großen Anzahl von umweltpolitisch engagierten Menschen und Gruppen unterstützt und teilweise mitausgearbeitet wurde.
Auch ein anderer wichtiger Unterschied macht die Berlin-Studie besonders spannend: Berlin hat heute in etwa gleichviele Einwohner wie Ende der zwanziger Jahre, die Strukturen der Stadt sind ebenfalls im großen und ganzen mit denen am Ende der Weimarer Republik vergleichbar, auch wenn mit Marzahn, Hellersdorf, Hohenschönhausen, Märkischem Viertel und anderen einige wichtige Stadtteile hinzukamen.
Allerdings gab es in Berlin vor 65 Jahren lediglich 28.000 PKW, heute nähert sich die Zahl den zwei Millionen. Die Menschen waren mit Rad, zu Fuß, mit dem öffentlichen Verkehr – und hier in erster Linie mit der Straßenbahn, die in Berlin über das weltweit größte Netz verfügte – mobil. Keine kann sagen und keiner soll denken: Die heutige Art zu leben bedürfe mehr des Automobils als dies Ende der zwanziger Jahre der Fall war.
Vor diesem Hintergrund legt der Autor einen Schwerpunkt seiner Arbeit auf die Darstellung der Verkehrsgeschichte der Stadt, beginnend Mitte des 19. Jahrhunderts mit Kutschen und Pferdeomnibussen, dann Pferdebahnen, über den Höhepunkt des Straßenbahnzeitalters zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zur Zeit Ende der zwanziger Jahre, als mit Tram, Hoch- und U-Bahn, S-Bahnen und Bussen der öffentliche Verkehr als flächendeckend und weitgehend optimal zu charakterisieren war. Die Option „Kraftwagen“ wurde dann erstmals unter der nationalsozialistischen Diktatur Teil der offiziellen Verkehrspolitik; Albert Speers geplanter und zum Beispiel im Tiergarten (Straße des 17. Juni) begonnener Umbau Berlins zur Reichshauptstadt Germania war zugleich die Konzeption der autogerechten und von Auto- und Aufmarschstraßen bestimmten Stadt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich diese Entwicklung vor allem im Westteil der Stadt fort. In der „Hauptstadt der DDR“ waren es vor allem wirtschaftliche Gründe, die – zumal nach der „Ölkrise“ 1973 – zu einer differenzierten Entwicklung beitrugen, was sich etwa in der guten Anbindung der neuen Stadtviertel an den öffentlichen Verkehr niederschlug.
Die Bilanz im Jahr der „Wende“, 1989, war ernüchternd genug. Beide Systeme – das marktwirtschaftlich-kapitalistische und das bürokratisch-zentralistische haben eine Stadt hinterlassen, in der Luft und Umwelt in kaum erträglichem Maß durch Straßenbau und Autoverkehr belastet waren. Die Chance für eine tatsächliche Wende zugunsten einer an den Interessen der Menschen orientierten Verkehrspolitik wurde – wie bekanntlich auch in der allgemeinen Politik – vertan. Mehr noch: Seit 1989 entwickeln sich Berlin-West und –Ost im Gleichschritt – besser: in Sieben-Meilen-Stiefeln – in Richtung auf die totale Autogesellschaft.
Der 1994 vorgelegte Flächennutzungsplan knüpft bei vielen Straßenprojekten an die Konzeptionen an, die unter Albert Speers Ägide entwickelt wurden. Die Planungen für den öffentlichen Verkehr sehen in erster Linie einen gigantischen Ausbau von unterirdisch geführten Bahnen vor, was tatsächlich den öffentlichen Verkehr finanziell untragbar machen muß. Kurz: Geplant wird die autogerechte Stadt und damit ein Ausmaß an Zerstörung von Umwelt, menschlichen Lebensbedingungen und Lebensqualität, wie es bisher nur von US-Städten wie Los Angeles erreicht – und dort heute zum Teil radikal angegriffen – wird.
Dieser Situation und Perspektive stellt der Autor eine wegweisende Alternative entgegen. Sie setzt an bei der Debatte um den Begriff der Mobilität und diskutiert Möglichkeiten der Reduktion des in weiten Bereichen „künstlichen Verkehrs“. Die Möglichkeiten des Ausbaus des nichtmotorisierten, also des Fußgänger- und Fahrradverkehrs, werden, ausgehend von den Vorstellungen der hier bereits stark engagierten Verbände, entwickelt. Der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) knüpft an der Situation Ende der zwanziger Jahre an und modifiziert und konkretisiert in gewissem Sinn das damals vorhandene ÖPNV-Netz entsprechend den – nicht gravierend – veränderten Stadtstrukturen und Verkehrsströmen.
Den Kern des Konzepts bildet ein flächendeckendes Netz von modernen und komfortablen Straßenbahnen, wobei es in Berlin die wohl einmalige Situation gibt, daß die Straßenbahn im Ostteil der Stadt noch existiert und sich dort bis heute den (relativ) größten Marktanteil am gesamten ÖPNV erhalten hat. Das heißt, diese Straßenbahn müßte „nur“ in den Westteil der Stadt teilweise auf alten, „eingefahrenen“ Bahnen verlängert werden.
Ein großer „Stadt- und Verkehrsbogen“, der dem Buch beiliegt, veranschaulicht diese alternative Verkehrsplanung. In gesonderten Abschnitten wird das Modell für einzelne Stadtteile – so Moabit und Hellersdorf – konkretisiert.
Die üblichen – teilweise naiven, teilweise demagogischen – Einwände, eine solche Verkehrspolitik sei nicht finanzierbar, sie zerstöre Arbeitsplätze und sie stelle keine „Realpolitik“ dar – sie stehen im Zentrum des letzten Kapitels. Winfried Wolf legt überzeugend dar, daß es die aktuell betriebene Verkehrspolitik ist, auf die das Verdikt „irreal“ und „nicht finanzierbar“ zutrifft. Er belegt an Beispielen aus den unterschiedlichen verkehrspolitischen Aktivitäten von Umweltgruppen in der Stadt und anderswo, daß eine Politik der Verkehrswende bereits heute überraschend viel Anklang findet. Und daß sich, wenn wir nicht weiter durch die Welt im allgemeinen und durch die „Berliner Luft“ im besonderen fahren wollen, als hätten wir eine zweite im Kofferraum, ein entsprechendes Engagement in jedem Fall lohnt.
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