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Der Spieler und der Buchhalter

Was „Schindlers Liste“, ein Zockerfilm an den Grenzen des Genres, mit den amerikanischen Holocaust-Museen gemein hat. Bevor die „Frankfurter Rundschau“ und die Schulbücher den Film endgültig erledigen, ein Nachtrag  ■ Von Hanno Loewy

Bei aller Wut, Steven Spielberg hätte „Shoah“ ungehörigerweise bebildert, erkennt der Regisseur Claude Lanzmann, daß Spielbergs Film ein anderes Thema hatte als „Shoah“. In Lanzmanns Film sprechen die Lebenden für die Toten. Spielberg jedoch hat keinen Film über das Sterben gemacht, sondern darüber, wie man überlebte. Und nur darum kann es in einem Spielfilm gehen: um das Überleben und vielleicht noch darum, was das Überleben in den Menschen anrichtet. Aber nicht das ist das Neue an Spielbergs Unternehmung. Solche Filme kamen und gingen. Die meisten sind der Verführung erlegen, den Holocaust als eine Leidensgeschichte zu erzählen und als eine Teufelei, an deren Ende sich doch die Würde des Menschen oder irgendeine Vision von der Zukunft als stärker erweist als das Grauen. Ähnliches gilt für die Inszenierung, die den Orten des Geschehens selbst widerfahren ist, wie Auschwitz oder den Gedenkstätten, die die Überlebenden sich schufen.

Reliquien verarbeitet

Spielbergs Film über das Überleben inszeniert das Sterben nicht als heroischen Opfertod, der noch das Überleben mit seiner Glorie umflort, sondern als sinnlosen und willkürlichen Akt. Und er hat dies mit dem verzweifelten Willen zur Authentizität getan, der an das Museum in Washington erinnert. Auch dort wird die Geschichte des Holocaust, die Geschichte des Überlebens nicht mehr erzählt, um irgendeinen Kampf, der vor Auschwitz begonnen hat, erfolgreich fortzusetzen, sondern um zu beweisen, daß man die Geschichte von Auschwitz überhaupt erzählen kann, daß die heute Lebenden eine Geschichte haben, über die man nicht nur schweigen kann. Und daß diese Geschichte Realität ist und kein böser Traum. Spielberg hat in diesem Film alle Fragmente physischer Realität integriert, derer er habhaft werden konnte, hat verzweifelt um jeden Originalschauplatz (und vor allem natürlich um den Drehort Auschwitz-Birkenau) gekämpft in dem unerschütterlichen Glauben, daß er seinen Film nur dort drehen könne. Er hat alle „Reliquien“ der Vernichtung, die Koffer und Haare, Brillenberge und Schuhe, die Fotos, die wir kennen, ja selbst die antisemitischen Klischees, die durch die Köpfe geistern, in seinen Film verwoben. Er hat all das getan, was auch das Holocaust Museum versucht. Und er ist darüber hinausgelangt, weil er eine Geschichte gefunden hat, ein Genre, das den hermetischen Zirkel von Überleben und Sinngebung aufbricht, selbst da noch, wo er selbst versucht, ihn zu schließen.

Wie also kann man die Erzählung der Wenigen, die Erzählung vom Überleben an ihre Grenze, nämlich an das Schweigen der Vielen, der Toten führen?

Spielberg, und das ist tatsächlich das Neue an „Schindlers Liste“, hat genau an dieser Grenze operiert. Er hat einen Film über einen Spieler gemacht, der den Gesetzen des Genres folgt und sie zugleich zertrümmert. Er hat einen Zockerfilm gemacht, einen Film über die Willkür und den Zufall, und genau indem er dies tat, hat er das Schweigen in den Spielfilm wieder hineingeholt.

Schindler als Rabbi

Das Gesetz des Genres kennt Varianten: Der Zocker verliert schließlich alles, nur um seine Menschlichkeit wiederzugewinnen. Am Ende ist er nackt, aber geläutert. Vorhang. Es geht natürlich auch weniger moralisch: Der Spieler ist klein, die Bank ist groß, und am Ende ist der Traum vom Glück für den Kleinen kein Märchen mehr, sondern schale Realität. Und wem dies zu trivial ist: Am Ende können wir auch mit der existentialistischen Ahnung leben, daß der Zocker bald wieder alles verspielt hat und die Welt sich im Kreise dreht.

Geht nicht auf

Spielbergs Film hat von all dem etwas und geht doch am Ende nicht auf. So sehr Spielberg sich auch bemüht, den Sack zuzumachen, es gelingt ihm nicht. Das Weinen des Zuschauers am Ende erlöst nicht, sondern treibt ihn nur zurück an die Stelle, wo die Geretteten und die Untergegangenen einander begegneten. Die Duschen, von denen man nicht weiß, was sie versprühen. Nicht, daß Spielberg Bilder der Shoah geliefert hätte, ist es, was diesen Film so fürchterlich und so eindrucksvoll zugleich macht, sondern daß er ein Gespür dafür besaß, wo die Bilder enden. Der Gang in die Duschen, der Voyeursblick durch das Guckloch und der Krampf, bevor aus den Duschen das Wasser tritt, ist vielleicht das Äußerste, was ein Film zeigen kann. Aber das Verschwinden der „Untergegangenen“ im Treppengang zum Nachbargebäude, denen die „Geretteten“, die „Schindlerjüdinnen“ hinterherschauen, markiert die Grenze. Das größte Mißverständnis wäre zu glauben, Spielbergs Schindler würde sich in seinem Film zwangsläufig vom Spieler zum rettenden Helden wandeln. Er tut es zwar, Spielberg hat darauf nicht zu verzichten gewagt, doch er fällt erst vollends aus der Rolle, als dafür dramaturgisch ohnehin schon alles zu spät ist. So wirkt denn die (fiktive) Rede zum Schluß vor seinen Schindlerjuden in einem sich scheinbar zur Synagoge wandelnden Fabriksaal hölzern und unauthentisch. Spielberg muß aus Schindler zu guter Letzt auch noch einen Juden machen, der sich um die Sabbatruhe sorgt. Es geht dabei gar nicht darum, was der wirkliche Schindler tat oder nicht. Den Ring, den ihm „seine“ Juden aus Zahngold geschmiedet haben, hat Schindler schließlich nach dem Krieg für Schnaps versetzt. Auch das gehört zu einer Spielergeschichte. Das aber wäre Spielberg denn doch zu weit gegangen. Dennoch: Zum Retter wird nicht der zum Helden geläuterte, sondern der Spieler Schindler selbst. Nicht der Held wird zum Retter, sondern der unfreiwillig zum Retter gewordene muß am Ende auch noch Held werden. Dabei wechselte schon vorher, mitten im Film und ganz bewußt ohne hinreichend erklärten Grund, der Spieler den Spieltisch. Den Zeitpunkt, an dem er dies eigentlich tut, läßt Spielberg offen, wie ein Rätsel. Und der Spieler versucht, den Zufall zu besiegen, Regeln zu finden, wo keine sind, und am Ende zu glauben, das Glück sei Verdienst. Doch die Spiele sind nicht alle gleich, und zu manchen gehört ja tatsächlich Geschick. Schindlers Spiel um den Profit der Zwangsarbeit kennt noch ein paar Regeln, die es zu finden und zu befolgen gilt. Diese Regeln hat er in der ersten Runde, in der es um Geld, Prestige und Frauen geht, schließlich erfolgreich durchschaut, und sein Gewinn ist immens. Doch wie es sich für einen wirklichen Spieler gehört, verpaßt er den Zeitpunkt, seinen Gewinn nach Hause zu tragen. Und er wagt sich an ein Spiel, bei dem er eigentlich nur verlieren kann, und das, was er vielleicht gewinnen mag, auf keinen Fall behalten darf.

Spielgeld, Blutzoll

In der zweiten Runde geht es um Menschenleben. Und jetzt wird es ihm ernst, und das natürlich auch deshalb, weil sein Gegner nun nicht mehr allein der anonyme Zufall ist, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Zu einem Spielerfilm gehört auch ein Kampf Mann gegen Mann. Daß man um diese Menschenleben spielen kann, so wie es Schindler und Göth miteinander tun, hat einen simplen Grund, der einen in diesem Film immer wieder wie ein Blitz durchfährt: Die, um die es geht, sind schon längst tot, auch wenn man es ihnen noch nicht unbedingt ansieht. Irgendwann, vermutlich schon bevor der Film begonnen hat, ist aus diesen Menschen Spielgeld geworden, das sich, so die einzige Regel, die es noch gibt, irgendwann in Luft aufzulösen hat. Irgendwann. Denn über den Zeitpunkt entscheiden viele. Manche haben es eilig, manche möchten noch ein wenig weiterspielen. So wird das Spielgeld Schritt für Schritt, je nach Lust und Laune, aus dem Verkehr gezogen. Dabei gibt es keine Regeln mehr, außer der, daß dieses Spielgeld selbst nicht mehr aus der Spielbank getragen werden darf, weil es sich sonst wieder in Menschen zurückzuverwandeln droht. Bis dahin folgt der Film einer gnadenlosen Logik, der Logik der Willkür. Und dieser Film heißt nicht deshalb „Schindlers Liste“ (und nicht etwa „Sterns Liste“), weil Schindler der Held dieses Film ist, mit dem wir uns identifizieren könnten. Identifizieren können wir uns vielleicht mit dem Buchhalter Stern, denn der weiß, was er will: Menschen retten. Und er weiß auch wie, oder glaubt es zu wissen: nämlich indem man die Mächtigen, an die man herankommt (also vor allem Oskar Schindler), dazu bringt, aus praktischen Erwägungen weiterzuspielen.

Sonde im Chaos

Schindler dagegen ist so etwas wie eine Sonde, die in das Chaos gesenkt wird, um nach einem Halt zu suchen. Der Spieler, der nach dem Code sucht, nach der Regel, mit der er das System, das nur die Willkür kennt, besiegen kann, ist eher ein Mann vom anderen Stern. Kein Identifikationsangebot, kein billiger Ablaß, nichts von alledem. Schindler ist ein Fremder, von der ersten bis zur letzten Minute des Films. Diese Rolle kann überhaupt nur einer von „den anderen“, also hier: ein Deutscher, spielen. Er muß am Ende entschwinden, und sei es noch so kitschig wie in diesem Fall, mit Staatskarosse und Häftlingsanzug. Und vielleicht hat auch deshalb Spielberg davor zurückgescheut, Schindlers Leben nach dem Krieg mit mehr als ein paar trockenen Worten über sein Scheitern als Geschäftsmann und Ehemann in einem Insert zu thematisieren.

Dabei verliert selbst Schindlers Auto, bevor es den Außerirdischen davonträgt, noch seine Unschuld. Dann nämlich, wenn Schindler, und auch dies paßt ins Genre, am Ende feststellt, daß er noch ein paar Dinge zu versetzen vergessen hat, um weiterspielen zu können. Auch dieses Auto hätte noch gut und gerne zehn Menschen wert sein können. Die Steine, die die Überlebenden am Ende des Films auf Schindlers Grab legen, sind sie nur für Schindler oder nicht erst recht für die Unzähligen bestimmt, die Schindler nicht hat retten können? Der Film versucht den Schluß nahezulegen, daß Schindler ein ganzes Volk vor dem Untergang bewahrt hat. Nur noch 4.000 Juden leben in Polen, aber 6.000 Nachkommen hätten die „Schindlerjuden“ gezeugt, heißt es zu guter Letzt in einem Insert. Zugleich aber legt er die verstörende Erkenntnis nahe, daß das, was Schindler tat, nur als Ausnahme denkbar war von einer Regel, die solche Ausnahmen vielleicht sogar brauchte, weil sie sonst nicht funktioniert hätte. Der Spieler aus Leidenschaft, der nicht nur den Code knacken, sondern aus dem Spielgeld wieder Menschen machen will, jener ausgeflippte Schindler, der die Logik des Spiels brechen will und beginnt, sein Geld für Leben zu verschleudern; er gehört möglicherweise letzten Endes immer noch zum Betrieb wie der mißratene Sohn zur Familie.

Die Übriggebliebenen

So hat auch die Szene, in der Schindler seine „Schindlerjüdinnen“ aus Auschwitz herausholt, einen doppelten Boden. Da bietet ihm der bestechliche Lagerkommandant die gleiche Zahl von Juden aus einem anderen Transport, das mache weniger „Schreibkram“. Doch Schindler besteht auf „seinen“ Juden, für ihn sind sie nicht austauschbar. Dem Lagerkommandanten ist es wurscht, welche Juden er an diesem Tage ins Gas schickt, solange die Zahlen stimmen. Das Tempo der Vernichtung hat sich durch das kleine Geschäft mit Schindlers Diamanten nicht geändert, der Kommandant zieht eben andere Juden aus dem Verkehr, angeliefert werden ohnehin täglich mehr als genug. Am Ende des Krieges hatten es dann selbst die Nazis mit dem Töten nicht mehr ganz so eilig. Die letzten Überlebenden wurden von Arbeitslager zu Arbeitslager geschleift, und die SS begann darauf zu achten, daß immer noch ein paar von ihnen übrigblieben, die man weiter einsetzen konnte, damit man selbst nicht etwa noch zum Fronteinsatz abkommandiert würde ...

All das erzählt „Schindlers Liste“ nicht, aber Spielberg braucht es auch nicht zu erzählen. Der Blick der aus den Duschen kommenden Jüdinnen zurück auf den „Transport“, der in die anderen „Duschen“ geführt wird, das Schweigen im Reden, das Sterben im Überleben bleibt übrig, holt den Schluß wieder ein.

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