: Die Mückenplage
■ Ein Märchen des kurdischen Journalisten Günay Aslan
Der kurdische Journalist Günay Aslan ist einer der ersten Autoren, die nach Inkrafttreten des Anti-Terror-Gesetzes verurteilt wurden. Sein Buch „33 Kugeln – Geschichte, die trauert“ wurde erstmalig 1989 publiziert und mit dem angesehenen Yunu-Nadi-Literaturpreis ausgezeichnet. In einer herausragenden Reportage hatte Günay einen Vorfall aus dem Jahr 1943 rekonstruiert. Auf Geheiß des Generals Muglali wurden damals 33 unschuldige kurdische Zivilisten an der Grenze zum Iran exekutiert. Die Morde wurden Anfang der fünfziger Jahre sogar Gegenstand eines Prozesses gegen den General.
Für seine Reportage recherchierte Aslan in den Gerichtsakten, sprach mit einem Soldaten, der am Exekutionskommando beteiligt war und mit Angehörigen der Ermordeten. Zuerst wurde gegen den Autor aufgrund des Paragraphen 142 der Prozeß eröffnet. Als der Paragraph 142 abgeschafft wurde, folgte nach der Neuauflage 1991 eine Anklage aufgrund des „Anti- Terror-Gesetzes“. Aslan wurde zu einer 24monatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Seit seiner Festnahme im Oktober 1993 sitzt der Journalist, der auch für die ARD tätig war, im Gefängnis der kleinen Mittelmeerstadt Köycegiz.
Unmittelbar nach seiner Inhaftierung schrieb er den folgenden Text – eine Parodie auf die türkische Politik, die überall „Separatisten“ wittert und den „Vernichtungsfeldzug gegen PKK und Sympathisanten“ angekündigt hat.
Die Politiker von Patavatien werden ganz leicht hysterisch. Es gibt Augenblicke, wo jede menschliche Tat in ihren Augen zum Separatismus wird: Essen und Trinken, Spazierengehen, Lachen und Weinen, Scheißen und Pissen. Die Staatssicherheitsgerichte Patavatiens urteilen Tag für Tag den Separatismus ab und verhängen Gefängnisstrafen: „Im Namen der Nation ergeht das Urteil, daß der Angeklagte, der durch sein Lachen die nationale Einheit gefährdete...“ oder „Es ist erwiesen, daß der Angeklagte durch zu langes Pissen die nationale Einheit gefährdete...“
Die Roboter schreiben die Urteile nieder, und eine andere Roboter-Einheit setzt zum Vollzug der Strafe an. Die Politiker von Patavatien, deren Hirnzellen von der Separatismus-Paranoia durchsetzt sind, sind unausgeglichene Menschen. Aus Angst vor der Spaltung des Landes verbringen sie die Nächte schlaflos und schweißgebadet.
Weil überall und jederzeit in Patavatien „Schuldige“ gefunden werden, blieb es nicht aus, daß es nur noch Schuldige im Land gab. Doch schon fingen die Probleme an. Außer den Schuldigen hinter Schloß und Riegel gab es niemanden mehr, der die Nation spalten könnte. Welch Schmerz, daß es keine Separatisten mehr gibt. Wieder rettete die Paranoia Patavatien. Schließlich stand ja nirgendwo geschrieben, daß nur Menschen das Land spalten könnten. Schließlich gab es noch Pflanzen und Tiere. Auch dort fanden sich „zerstörisch-separatistische“ Elemente.
Der Staat Patavatiens hatte neue Feinde gefunden. Sofort trat der „Nationale Sicherheitsrat“ zusammen. Ein Beschluß von historischer Tragweite wurde gefaßt. Alle Tiere mußten fortan eine Glocke tragen. Die Fortbewegung der Tiere mußte der nationalen Einheit Rechnung tragen. Die Glocken mußten im Rhythmus der nationalen Einheit läuten. Patavatien orderte eine Milliarde Glocken, die in einer großen Fabrik in den USA produziert wurden. Doch die Glocken, für die das arme Patavatien fast seinen ganzen Etat opferte, waren einheitlich und gleichförmig. Probleme entstanden, weil es große und kleine Tiere gab. Ebenso entstanden Probleme, weil die Tiere vor der „Verglockung“ gefangen werden mußten. Der Staat entwickelte das Konzept der „Total-Verglockung“, und alle Roboter-Einheiten wurden für diese nationale Aufgabe mobilisiert. Zwar war es nicht schwierig, domestizierte Tiere, wie Schafe, Kühe, Hühner, zu fangen und zu erzwingen, daß sie im nationalen Einheitsrhythmus der Glocken marschieren. Doch die fliegenden Tiere, wie Mücken, Fliegen, Bienen, und die wilden Tiere, wie Löwen und Panther, stellten ein Problem dar. Doch egal, was es kosten möge – die Politiker Patavatiens ließen von ihrem Mega-Plan, auch die Mücken Patavatiens zu verglocken, nicht ab. Nach ihrer Meinung haftete die separatistische Drohung insbesondere an den Flügeln der Mücken.
„Was tun?“ wurde in Patavatien gefragt. Manche schlugen die konventionelle Ausrottung der Mücken vor, andere plädierten für C-Waffen.
Der Staatspräsident Patavatiens erklärte, daß, „wer auch immer die Mücken unterstützt und mit ihnen sympathisiert, ein Mörder ist“. Die Ministerpräsidentin rühmte: „Wir töten 22, falls einer von uns getötet wird.“ Doch die Mücken vermehrten sich so schnell. Die Staatsmänner und -frauen Patavatiens konferierten Tag und Nacht. Gesucht wurde die Lösung. Vergeblich hatten sie jeden Weg und jedes Mittel ausprobiert. Und eines Tages – wieder konferierten sie – fingen sie an zu schreien: „Lösung“, „Lösung“, „Lösung“. Sie waren allesamt verrückt geworden.
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