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„Ich hatte Angst vor draußen“

Praktische Integration von AusländerInnen: Durch ein Pilotprojekt zur Förderung ausländischer Kinder und Mütter werden Frauen selbstbewußter  ■ Von Bernd Siegler

Wer legt als erster das Kärtchen mit den fünf Hühnern auf das Feld mit der Zahl 5? Die fünfjährigen Zwillinge Gül und Can machen sich einen kleinen Wettbewerb daraus, ihre Mutter Ayșe muß sie in ihrem Eifer bremsen. Dann stürmen die Kinder nach draußen und toben im Hinterhof mit anderen herum. Ayșe kann einkaufen gehen. Das war nicht immer so. Vor acht Jahren, kurz nach der Heirat, folgte Ayșe ihrem Mann Ahmed von Ankara nach Deutschland. Noch vor einem Jahr verließ sie ihre kleine Wohnung im Nürnberger Stadtteil Gibitzenhof nie ohne ihren Mann. Die 25jährige Frau traute sich nicht allein zum Einkaufen oder zum Arzt, hatte keinerlei Kontakte, lebte in völliger Isolation. „Ich hatte Angst vor draußen, vor den anderen Menschen.“ Ihre Unsicherheit übertrug sich auf die Kinder. Die Zwillinge versteckten sich in der Wohnung, wollten nicht in die nahegelegene Spielstube, hingen der Mutter ständig am Rockzipfel.

Seit einem Jahr beteiligt sich Ayșe mit ihren Kindern an dem Modellprojekt „HIPPY“ (Home Instruction Program for Preschool Youngsters). HIPPY ist ein Anfang der 70er Jahre in Israel entwickeltes Lernprogramm für vier- bis sechsjährige sozial benachteiligte Vorschulkinder. Projekte dieser Art existieren unter anderem in den USA, den Niederlanden, in Mexiko, Neuseeland, Australien und Südafrika — und seit 1992 als bundesweit einmalige Pilotprojekte in Nürnberg und in Bremen. Je knapp 60 Familien beteiligen sich. Finanziert werden sie je zur Hälfte von der Stadt Nürnberg und dem Land Bremen sowie aus Mitteln des Bundesministeriums für Frauen und Jugend.

Das Konzept von HIPPY ist denkbar einfach. Im Vordergrund steht die gemeinsame Arbeit von Mutter und Kind. Laienhelferinnen, die meist aus demselben Land kommen wie die von ihnen betreuten Familien, erklären den Müttern bei ihren Hausbesuchen Arbeitshefte, Bilderbücher und Spiele. 15 Minuten pro Tag üben die Mütter dann mit ihren Kindern: Geschichten werden erzählt, Wörter müssen zugeordnet, Formen erkannt werden – und das alles auf deutsch.

Alle 14 Tage treffen sich die beteiligten Frauen zum gemeinsamen Plausch. Für eine Kinderbetreuung ist gesorgt. Die Männer müssen natürlich draußen bleiben. Neben einem breiten Angebot von Vorträgen, das von gesunder Ernährung bis zum sexuellen Mißbrauch reicht, werden Ausflüge organisiert, zwischen den Müttern entstehen Freundschaften, die Isolation wird durchbrochen. Der Ausgangspunkt von HIPPY war die Erkenntnis, daß in vielen ausländischen Familien die Kinder traditionellerweise „nebenherlaufen“. Sie werden nicht, wie etwa in deutschen Mittelschichtsfamilien, bereits im Vorschulalter mit entsprechenden Spielen und Bilderbüchern gefördert. Auch in Aussiedlerfamilien bleibt für Kinder angesichts der Probleme der Eltern zuwenig Zeit. Hinzu kommen meist Sprachschwierigkeiten, und schon ist das Scheitern in der Schule vorprogrammiert.

Nach Zahlen des Deutschen Jugendinstitus in München, das HIPPY wissenschaftlich begleitet, ist die „Isolation besonders der türkischen Familien bemerkenswert groß“. Obwohl die meisten von ihnen bereits mehr als zehn Jahre in Deutschland leben, haben 67 Prozent keine näheren Kontakte zu einheimischen Deutschen.

Auch die Frauen werden selbstbewußter

Nicht nur die Kinder werden durch HIPPY selbstbewußter, sondern auch ihre Mütter. „Es war wunderbar“, beschreibt Ayșe das Gefühl, als sie zum erstenmal ohne ihren Mann zum Einkaufen ging. „Endlich konnte ich all das kaufen, was ich wollte. Das war richtig befreiend.“ „Wir machen praktische Integration“, beschreibt Renate Sindbert, Koordinatorin des Nürnberger Projekts, die Auswirkung von HIPPY. „Die Kinder legen ihre Scheu ab, werden frecher, und die Mütter blühen regelrecht auf.“

Neidvoll blickt sie in die Niederlande. Dort umfaßt HIPPY 5.000 Familien und ist ein halbstaatliches Programm. Die Betreuung ist als Beruf anerkannt, die Finanzierung ist auf Jahre hinaus gesichert – ganz im Gegensatz zu Deutschland. Auch aus anderen deutschen Städten wie aus Duisburg, Augsburg oder München bekommt die Sozialpädagogin immer wieder Anfragen. „Aber meistens scheitert es dann am Geld.“

Dabei ist HIPPY ein billiges Projekt. Die Eltern sind die Lehrer ihrer Kinder, die Betreuerinnen sind Laienhelferinnen, und es gibt keine hohen Materialkosten. Das Programm für die 60 Familien in Nürnberg kostet pro Jahr etwa 170.000 Mark. Jetzt im Sommer ist die Modellphase zu Ende, die Bezuschussung durch den Bund läuft aus. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Cornelia Schmalz-Jacobsen, betrachtet HIPPY zwar als „in seiner Form einzigartiges Programm“ und bescheinigt ihm ein „Schneeballsystem für ein spannungsfreies Miteinander-Leben von Deutschen und Ausländern“. Doch sie hat kein Geld.

Die Stadt Nürnberg geht mit gutem Beispiel voran. Sie hat sich bereit erklärt, den Restbetrag für dieses Jahr voll zu übernehmen und eine Finanzierung für 1995 in Aussicht gestellt.

Angesichts der zögerlichen Haltung anderer Städte und des Gerangels um die Finanzen hat Sindbert den Eindruck, daß die Integration „politisch nicht gewollt“ sei. „Wenn die Politiker nicht einmal akzeptieren wollen, daß wir ein Einwanderungsland sind, dann ist es doch auch kein Wunder, daß sie für die Integration nichts übrig haben.“ Nihal Güver, eine der Laienhelferinnen, findet solches Denken „ausgesprochen dumm“. „Die Kinder gehen sowieso nicht zurück, je eher sie integriert werden, um so besser.“

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