: ,Ohnhänder' – verschlissen in den besten Jahren
■ Während die „Contergan-Kinder“ aus den 60erJahren heute wegen Überbeanspruchung an verschlissenen Gelenken leiden, erlebt der Contergan-Wirkstoff Thalidomid sein Comeback in der Lepra- und Aidsbehandlung
Wie andere frischverliebte Paare wollten auch Susanne und Rüdiger Leifermann in der neuen Wohnung erstmal einen Sekt kippen. Leider war der Nachbar nicht da. Also dauerte es eine ganze Stunde, bis sie mit Messern und Gabeln den Korken herausgeprokelt hatten. Susanne und Rüdiger Leifermann haben keine Daumen, sondern an jeder abgeknickten Hand nur drei Finger. Außerdem können sie die Ellenbogen nicht richtig beugen. Dennoch hat es der 34jährige Rüdiger Leifermann aus Bremerhaven zum Diplomingenieur Systemanalytik gebracht, er arbeitet bei Mercedes am ganz normalen Computer – die unteren Knöpfe seines Sommerhemdes aber kann er nicht alleine zuknöpfen. Dazu sind die Arme zu kurz. Und nach dem Toilettengang „kommt die Hose nicht von alleine wieder hoch“. Das sind aber immer nur Kleinigkeiten, sagt er.
Kleinigkeiten im Vergleich zum Alltag manch anderer der 2.600 überlebenden „Contergan“-Geschädigten in Deutschland: vielen fehlen die Arme ganz, manchen auch die Beine. Weitere über tausend Kinder starben innerhalb der ersten vier Lebensmonate, weil zusätzlich innere Organe fehlgebildet waren. 1957 hatte die Firma Grünenthal das Schmerz- und Beruhigungsmittel „Contergan“ auf den Markt gebracht, 1961 zog sie es zurück. Seitdem verschenkt Grünen-thal seine Restbestände an Dritte-Welt-Länder – zur Leprabehandlung.
In die Schlagzeilen geriet jetzt Brasilien. Das brasilianische Gesundheitsministerium läßt den „Contergan“-Wirkstoff Thalidomid im Land selbst herstellen und verteilt ihn an Leprakranke. Grund: Thalidomid hemmt das Wachstum zum Beispiel von Blutgefäßen. Möglicherweise läßt sich mit Thalidomid auch die Vermehrung der HI-Viren hemmen – deutsche ÄrztInnen experimentieren damit seit kurzem. Während aber in Deutschland heute sichergestellt zu sein scheint, daß Schwangere kein Thalidomid schlucken, funktioniert diese Kontrolle in Brasilien offenbar nicht. Kritische ÄrztInnen dort haben kürzlich eine Verbindung erkannt zwischen mißgebildeten Neugeborenen und der Thalidomid-Behandlung ihrer leprakranken Mütter.
Bislang dementiert das brasilianische Gesundheitsministerium solch einen Zusammenhang. Die Folge: Die Thalidomidopfer sind offiziell nicht anerkannt, sie bekommen also keine Entschädigung. In Deutschland wurde den Opfern 1970 nach einem Mammutprozeß eine einmalige Entschädigung von 15-20.000 Mark zugesprochen sowie lebenslang eine monatliche Rente von derzeit etwa 800 Mark.
Eine ganze Gesellschaft fühlte sich damals zuständig für die Integration der „Contergan-Kinder“. Jeder Fortschritt wurde in den Medien dokumentiert: Auf Fotos hielten kleine Jungs und Mädchen triumphierend Brötchen und Kugelschreiber zwischen den Zehen oder klemmten Sandeimer zwischen Kinn und Schulter. Die „Contergan-Kinder“ waren die erste Generation von Behinderten, die systematisch von Eltern, SozialarbeiterInnen und TherapeutInnen auf Selbständigkeit trainiert wurden – und damit auf die maximale Ausnutzung der verbliebenen Körperteile.
Das alte Schema „kaschieren, verdrängen, ausgleichen“ hatte ausgedient: Band man anfangs noch den „Contergan-Kindern“ wie den Kriegsversehrten Prothesen an die Armstummel und Druckluftflaschen zur Steuerung auf den Rücken, ließ man sie endlich mit den Füßen essen und schreiben.
Doch das Selbständigkeitstraining war kein Zuckerschlecken, erinnert sich Rüdiger Leifermann: Er hat als Sechsjähriger einen tränenreichen Nachmittag lang versucht, mit den wenigen und schwachen Fingern Schnürsenkelschleifen zu binden. Nachts träumte er davon, daß ihm noch Finger nachwüchsen.
Umso bitterer war diese Erfahrung: Ein Fernsehteam hatte ihn, den Vorsitzenden des Landesverbandes Bremen Unterweser, besucht, dann aber nicht gefilmt mit der Begründung, daß er nicht genug geschädigt sei – er habe ja noch Beine.
Heute scheinen die Contergangeschädigten integriert. Sie haben nicht-geschädigte PartnerInnen gefunden, gesunde Kinder zur Welt gebracht, zum Teil hochqualifizierte Arbeitsplätze gefunden ... „Was wollt Ihr eigentlich, Euch geht's doch gut“, sagen daher andere Behinderte, die keine Entschädigung bekommen haben und längst nicht so viel Medienaufmerksamkeit.
„Aber es ist nicht alles Gold, was glänzt“, sagt Elke Klink, Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Contergangeschädigten. Großes Thema derzeit: Trennungen. „Oft wurden eben einfach nur die langen Arme geheiratet“.
Und auch mit den Arbeitsstellen ist es nicht immer weit her: Susanne Leifermann zum Beispiel, Bürofachfrau, bekam bei ihrem Wechsel von der Telekom Bremen zur Telekom Bremerhaven zwar wieder eine qualifizierte Büroarbeit versprochen und sollte nur kurz in die Auskunft – jetzt sitzt sie schon seit über zwei Jahren in der Auskunft.
Und dann macht sich bei den knapp über 30jährigen das Alter bemerkbar: Hüften und Kniegelenke sind verschlissen wegen der ständigen Überbeanspruchung. Manche von denen, die sich wegen der kurzen Arme dauernd verrenken und bücken müssen oder die mit den Füßen schreiben, mußten jetzt schon aus Gesundheitsgründen auf Teilzeitarbeit gehen. Die hart erarbeitete Integration konnten sie nicht lange genießen.
Wütend macht es deswegen Rüdiger Leifermann, wenn Krankenkassen die Hilfe beim Anziehen, Einkaufen oder Putzen nicht bezahlen wollen, wenn die neue Pflegeversicherung die Contergangeschädigten einfach vergißt. „Wenn wir diese Hilfen nicht jetzt bekommen, wenn wir uns also nicht jetzt schonen können, dann werden wir ganz schnell pflegebedürftig.“ In die Pflegeversicherung komme man eigentlich nur mit dem Kopf unterm Arm, sagt Geschäftsführerin Klink. Jetzt klagen die Contergangeschädigten ihre Ansprüche einzeln ein bei den Sozialgerichten. Der Verband ist also noch lange nicht überflüssig geworden.
Nebenher schnürt man Pakete für Brasilien: mit abgelegter, aber eben schon für die sogenannten „Ohnhänder“ abgeänderter Oberbekleidung, oder mit Greifarmen, die es Ohnhändern ermöglichen, etwas vom Boden aufzuheben oder ein Henkelglas aus dem Schrank zu holen.
Christine Holch
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