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Sänger ohne Hof

Auch nach 35 Jahren steht Tamla Motown für das Glück, jung, talentiert und schwarz zu sein  ■ Von Harald Fricke

Detroit ist eine Maschine, die wie keine andere amerikanische Traumwaren ausgespuckt hat: Autos und Musik, Werte einer sich ständig beschleunigenden Massenkultur. Ford, General Motors, Tamla-Motown, das Fließband und der Beat.

Die Straßenkreuzer stehen mittlerweile im Museum, und Motown feiert in diesem Sommer 35jähriges Bestehen. Es war das erste schwarze Plattenlabel, das nicht länger Hege und Pflege der Tradition von Jazz und Rhythm & Blues in der zugewiesenen Kulturnische betrieb. Berry Gordy jr. wollte mit seiner 1959 als Ein-Mann-Unternehmen gegründeten Plattenfirma den Sound des „Young America“ schaffen. Sein Talent, Stile zu vermischen, statt althergebrachte Roots und Identitäten zu verteidigen, brachte eine enthusiastische schwarze Pop-Kultur hervor, die bis in die Selbstdarstellungskünste schwarzer Basketballstars wie Shaquille O'Neal hineinreicht, der grinsend für Nike wirbt. Totally in and out of Blackness: Auch Michael Jackson hat seine Karriere bei Tamla Motown als zehnjähriger Steppke in Detroit, „Hitsville USA“, begonnen.

Hoch im Norden, am gewaltigen Michigan-See gelegen, war die Stadt in den zwanziger Jahren das Ziel zuwandernder Afroamerikaner aus dem Süden, die sich von der Automobilindustrie bei Ford, Dodge und Cadillac bessere Jobs als in der Landwirtschaft des Südens erwarteten. Doch die Hoffnungen wurden schnell enttäuscht: Im Juni 1943 protestierten 25.000 weiße Arbeiter gegen die Gleichstellung der Rassen an den Fließbändern. Es gab Ausschreitungen, bei denen 35 Menschen ums Leben kamen. 29 von ihnen Schwarze, die von eingreifenden Polizeitruppen erschossen worden waren – von Weißen, die auch aus dem Süden stammten: als hätte sich die Sklaverei des vorigen Jahrhunderts mit der Hochindustrialisierung lediglich geographisch verschoben und auf andere Ordnungsmächte übertragen. 1967 wiederholten sich die Riots noch heftiger: 43 Tote, über 7.000 Verhaftungen. Doch diesmal kamen die Aufständischen aus den Ghettos der black community, die gegen ihre Ausgrenzung protestierten. Die Nachkommen von '43 hatten sich formiert. „Jetzt stellt sich heraus, daß wir uns mit den falschen Schwarzen auseinandergesetzt haben“, bekannte Henry Ford II. gegenüber The Saturday Evening Post auf dem Höhepunkt der Kämpfe: „Die schwarze Mittelklasse hat sich ebenso wie wir vollkommen von dem entfernt, was in den Ghettos passiert.“

Ford lag mit seiner Einschätzung gar nicht mal falsch. Detroit war gespalten: 500.000 Afroamerikaner bildeten einen Anteil von 36 Prozent der Bevölkerung, von denen ein Bruchteil in die Mittelschicht aufgestiegen war. Daß diese neugewonnene Prosperität lediglich die Spitze des Eisbergs darstellte, hatte in der weißen majority in den Jahren zuvor kaum jemand bemerkt – und die wenigen etablierten Schwarzen fühlten sich nicht mehr betroffen. Schwarzes und weißes Bürgertum waren gemeinsam einem geschönten Bild von Rassengleichheit aufgesessen – einem Image, das auch Tamla- Motown verkörperte.

Indem Motown-Stars wie Diana Ross & The Supremes als erfolgreiche schwarze Entertainer auf dem Time Magazine abgebildet wurden, die Temptations in Las Vegas ihre Pirouetten drehten und Smokey Robinson von Bob Dylan als „größter Poet Amerikas“ bezeichnet wurde, schien die Trennung im realen Sozialgefüge durch die egalitäre Ordnung von Popsymbolen überwunden. Ein Irrtum. Der Soul dieser Zeit war zwar eine Art role model für neue schwarze Prächtigkeit, festgeschrieben in Lackschuhen, Kashmere-Rollis und Maßanzügen. Doch seine Protagonisten spielten für ein mittlerweile überwiegend aus weißen Hörern bestehendes Publikum, dessen Freizeitverhalten schnell mit Gesinnung verwechselt wurde. Elvis Mitchell, Autor des bei St. Martin's Press erschienenen „The Motown Album“, hat den Wunsch nach Assimilierung von schwarzer Kultur im Mainstream wohl zu Recht mit dem Vorgehen jüdischer Entrepreneurs bei der Begründung der amerikanischen Filmindustrie verglichen: Dort wurde Geschichte noch einmal neu erfunden, durchgespielt und den Massen zurückgegeben – als „Birth of a Nation“. Auch Motown war ein Spiegelkabinett, eine Ansammlung von Sängern ohne Hof, ein Betrieb.

Umgekehrt hatte sich gerade Motowns Impresario Berry Gordy jr. in der Bedeutung von schwarzer Musik zunächst getäuscht: Bereits 1955 mußte der damals 26jährige seinen auf Jazz spezialisierten Schallplatten-Shop schließen, als der Trend in Detroits Suburbs zu Doo-Wop statt Bebop ging. Binnen kurzer Zeit lernte der einstmalige Profiboxer umzudisponieren. Er achtete mehr auf die musikalischen Entwicklungen der Straße und hörte weniger Radio. Bald stellte er fest, daß die Wurzeln in Gospel und Blues, die der Jazz längst in epische Erzählformen übertragen und zu abstrakten Instrumentals umgearbeitet hatte, noch immer als direktes Frage- und Antwortspiel bei den Streetcorner-Groups funktionierten. Das Wort war bei denen, die es aussprachen. Gordy wechselte die Seite, wurde Songwriter und arbeitete mit Jackie Wilson, für den er den Millionenseller „Reet Petite“ schrieb.

Vom raschen Erfolg beflügelt, versuchte sich Gordy als Produzent, und wieder scheiterte er kläglich, diesmal allerdings nicht am Geschmack, sondern an Marktmechanismen. 1958 lernte er den halbwüchsigen William „Smokey“ Robinson bei einem Vorsingen kennen. Knapp vier Monate später hatten die beiden eine Band zusammengestellt, und Robinson nahm mit den Miracles „Got a Job“ auf, eine freudige Antwort auf das spöttische „Get a Job“ der Silhouettes, einer lokalen girl group. Der Song wurde bei End- Recordings herausgebracht, von den Tantiemen sah Gordy allerdings ebensowenig wie sein Sänger. Obwohl das Lied in die R & B- Charts eingestiegen war, bekam er einen Scheck über ganze 3,17 Dollar überwiesen. In seiner Euphorie hatte Gordy die Sicherung der Publishing-Rechte vergessen. Kein guter Start für ein Soul-Imperium.

Daß Gordy nicht aufgab, mag seinem Boxerherz geschuldet sein. Jedenfalls nahm er einen Kredit über 800 Dollar auf, ließ Smokey Robinson hinreißend im Falsett weiterschmachten und produzierte fürderhin in Eigenregie Hits wie am Fließband: Bereits im ersten Jahr nach Labelgründung waren Songs wie „Money“ (Barrett Strong), „Shop Around“ (Smokey Robinson) und „Please Mr. Postman“ (The Marvelettes) sowohl in Pop- als auch R & B-Hitlisten landesweit auf Platz eins gelangt.

Mit dem Erfolg kam ein neues Konzept von Soul, der zwar noch die Botschaft des Herzens vermittelte, dessen Dynamik aber der Arbeitswelt entsprach: Die Songs waren treibend, euphorisch, schnell und vergänglich. In einer einzigen Strophe etwa von „Money“, der ersten Single auf dem Motown-Label, die im August 1959 veröffentlicht wurde, konnte man alle Stadien der Wunschproduktion durchlaufen: „The best things in life are free / but you can give them to the birds and bees / I want money / That's what I want“. Den Text hatte sich Gordy wie ein Credo von der Seele geschrieben. Die chaotische Energie des Gospel war hier auf weltliche Themen übertragen und zu Zweieinhalb-Minuten-Popsongs formalisiert, die Kirchengemeinde in ein familienartiges Unternehmen überführt worden. Nach vier Jahren lukrativer Zusammenarbeit ernannte Gordy Robinson zum Vize-Präsidenten, seine Frau übernahm die Buchhaltung. Der Rest sang. Und es funktionierte.

Selbst im Sound spiegelte sich die ökonomische Triebkraft von Ort und Zeit wider. Motown- Songs klangen mit ihrem klirrenden und krachenden Beat wie in der Motorenhalle von General Motors gefertigt. Tatsächlich ahmten die Musiker die sie umgebende Automobilindustrie in den Songs nach. Das Schlagzeug zu Martha Reeves & The Vandellas' „Dancing in the Street“ wurde mit Stahlketten behängt, um die Atmosphäre zu steigern. Zusammen mit im Stakkato gehämmertem Piano und entsprechend schrillen Bläsersätzen machte Motown noise, wie an eine Fabrikwand geklatscht. Es war eine Art Akkumulation von Lärm, der das Leben im Arbeitsalltag begleiten sollte, während die Texte dazu den inneren Motor antrieben, Speed für die Freizeit – zwischen Liebes-Nonsens wie „(I can't help myself) Sugar Pie Honey Punch“ und den täglichen Zwängen von „Nowhere To Run“. Das letztere wurde mit einem Musikclip promotet, bei dem die Vandellas auf der Rückbank eines Pontiac singend über das Fließband fahren, bis der Wagen fertigmontiert ist.

Was nach außen wie die fröhliche Affirmation von industrialisierter Popkultur wirkte, wurde firmenintern streng organisiert. Gordy ließ sich selbst die Namen seiner Bands patentieren: Temptations, Supremes oder Miracles gehörten der Tamla-Motown-Corporation. Anstelle des frühen Song-Writing seines singenden Zugpferdes Robinson schrieben ab 1963 bis zu acht Teams an den Songs, die dann einem Stamm aus mittlerweile 18 verschiedenen Bands und Solo-Interpreten vorgelegt wurden, bis nach etlichen Aufnahme-Sessions die beste Fassung als Single veröffentlicht wurde. Dies ist auch einer der Gründe, warum Lieder wie „The way you do the things you do“ gleich auf mehreren LPs auftauchen konnten. Die Strategie war Teil des breit angelegten product placement, das auf die breitenwirksame Attraktivität noch der Variationen zum Temptations-Hit spekulierte. Gleichzeitig entdeckte man Merchandising: Buttons mit dem Logo des Motown-Labels gehörten ebenso wie Hitsville-Mützen und Lufthansa-artige Täschchen zur Produktpalette. Dahinter stand die Werbeidee, Detroit, Motown, Soul und die Mode des „Young America“ in eins zu setzen. Nebenbei beschäftigte das Label einen kompletten Stab an Lehrern, die aus einem Haufen unbedarfter Teenies individuelle Persönlichkeiten machten: Smokey Robinson als schüchtern-entrückter Lover, Marvin Gaye als edelmütiger Junggeselle, Mary Wells mit der ausgeglichenen Anmut einer Sprechstundenhilfe und im Gegensatz dazu die derbe Frontfrau Martha Reeves oder der heiser-verzweifelte blinde Junge, Stevie Wonder. Der erfolgreichste Motown-Act, Diana Ross & The Supremes, schien all diese Charaktere zu vereinen. Immerhin hatten sie jeweils einen Singing-, Acting-, Dressing Coach und wurden darüber hinaus von einer Benimmlehrerin betreut, die ihnen ein damenhaftes Auftreten beibrachte. Holprige Eleganz als raw model für black glamour: Motown hatte dem Doo-Wop von der Ecke eine entfesselte, weil wurzellose Form gegeben, die schroffen Harmonien des R & B in weiche Akkorde aufgelöst und Blue Notes in ein lebensbejahendes Dur verwandelt. Daß sich darin auch Verzweiflung über die Wirkungslosigkeit von Pop entlud, mag einem federleichten 63er-Robinson-Song mit dem depressiven Titel „I gotta dance to keep from crying“ noch anzuhören sein. Trotzdem klang in der Trauer eine Begeisterung an – ein innerer Widerspruch, der der konstruierten Identität von Motown entsprach: War es Glück, jung, talentiert und schwarz zu sein? Oder Training? Michael Jackson hat die Fragen auf seine Art beantwortet –

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und Tamla Motown über 300 Millionen Platten verkauft.

Als es 1967 krachte, stand auch Berry Gordy jr. vor einer neuen Situation: Sollte sein Label den Weg des Widerstandes mitgehen und sich zum Sprachrohr der civil rights movement machen? Die Reaktionen blieben zaghaft: Die Supremes brachten „Love Child“, ein Stück Sozialromantik aus dem Ghetto, heraus; die Temptations ließen sich einen Afro wachsen und veröffentlichten das psychedelisch überladene „Ball of Confusion (That's what the world is today)“. Für die Dokumentar-Platte einer Rede von Martin Luther King gegen den Krieg in Vietnam, die erst nach seinem Tod 1971 erschien, wurde Motown mit dem Grammy ausgezeichnet. Fast schien es, als könne jede Kritik die blendende Erfolgsstory bloß weiterschreiben – mit „War“ von Edwin Starr stand am 19. August 1970 zum ersten Mal ein expliziter Protestsong auf Platz eins der Pop-Charts. In den Ghettos hoffte man währenddessen auf Sly Stones „There's a riot goin' on“. Die Gegensätze sind bis in House, Swingbeat und HipHop erhalten geblieben. In Detroit wird derweil Techno produziert.

In der 35th Anniversary Collection ist die Compilation Smokey Robinson & The Miracles (4 CDs) erschienen. Außerdem wurde eine CD-Box mit Original-LPs von Marvin Gaye wiederveröffentlicht.

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