: Italiens Blauhelme im Inneneinsatz
Zoff bei Protesten gegen die Räumung einer besetzten Druckerei in Mailand / Die Bewohner des ehemaligen Kulturzentrums in der Via Leoncavallo hatten dort eine neue Bleibe gesucht ■ Aus Mailand Werner Raith
Das Palästinensertuch, vom vielen Waschen mit anderen Stücken aus dem vormaligen Schwarzweiß ins Rötliche übergegangen, hat auch geruchsmäßig Nostalgisches an sich: „Richtig“, knurrt Antonio hinter seinem Zipfel des Schals und bedeutet mir, es fester vor die Nase zu pressen: „Urin und Mentholsaft — immer noch der beste Filter gegen das da.“ Das da, das sind die Schwaden aus den Tränengasgranaten, die die Viale prinzipe Amedeo in Mailand übersäen, dampfende Reste eines heißen Samstagnachmittags.
Polizisten, am frühen Abend nach stundenlangen Scharmützeln gerade im Rückzug befindlich, schleudern höchstens noch über die Schulter ein paar Steine zurück, und auch die Helden des Nachmittags scheinen etwas ermüdet: Seit fünf Uhr war die genehmigte Demonstration selbstverwalteter Jugendzentren aus ganz Italien eskaliert, weil die Polizei den Vormarsch der überwiegend in weiße Regenmäntel mit Plastikmasken gehüllten Gestalten über die erlaubte Route hinaus ins Stadtzentrum zu verhindern suchte. Anlaß der Demonstration war die angedrohte Räumung einer ehemaligen Druckerei, von den sogenannten „Leoncavallisti“ besetzt worden war. Diese sind ehemaligen Bewohner des Mitte vorigen Jahres geräumten Stammhauses aller italienischen Hausbesetzer in der Via Leoncavallo, das als Kulturzentrum diente. Doch das war den meisten Demonstranten wie der Polizei längst aus den Augen und Köpfen verschwunden, als der Protestmarsch begann: Es ging nur noch darum, bei der Marschroute nicht auf die menschenleeren Außenviertel beschränkt zu werden, sondern auch „drinnen“, im Zentrum, gegenüber den Etablierten und Gutsituierten und möglichst auch Touristen mit Multiplikatorenwirkung fürs Ausland die Ansprüche der Besetzer auf ruhiges Leben in den von ihnen okkupierten stillgelegten Fabriken anzumelden.
Antonio, einer der Pioniere noch aus der Zeit, in der das Leoncavallo, oder kurz „Leonka“, ausschließlich von den linken Studenten- und Arbeitergruppen der Lotta continua geführt wurde und eine rigide interne Moral herrschte, hat auch diesmal, bei der Besetzung der leerstehenden Druckerei mitgeholfen: „Leider ist da nur Platz für ein paar Dutzend der gut und gerne vierhundert aus dem Leonka“, sagt er, „und die Nachbarn sind hier im Stadtteil Greco überwiegend ablehnend, teils Saubermänner aus der Forza Italia, teils Anhänger der Ligen, die sowieso schon immer Afrikanerkrals oder Mafiosi riechen, wenn einer lockige Haare und dunklen Teint hat ... Aufpassen, unsere Blauhelme kommen wieder!“
Tatsächlich rüsten sich die Polizisten vorne an der Piazza Cavour wieder zum Sturm: Ein kleines Fernsehgerät, das Antonio mit sich führt und das die Übertragung eines offenbar in einer der vordersten Reihen postierten Lokalsenders einfängt, zeigt, wie sich die Ordnungshüter gerade zu einer Art „schiefer Schlachtordnung“ formieren: Der rechte Flügel stark nach vorne geschoben, möglicherweise, um die Demonstranten in die Seitenstraßen und dort auf die öffentlichen Parkanlagen zuzutreiben. Ein geradezu makabres Bild, wenn die fast nach UN-Soldatenart austaffierten, mit hellblauen Helmen versehenen Polizisten und Carabinieri zum Angriff blasen und losstürmen.
Doch Antonio hat aufgepaßt: „Die haben links was vor“, ruft er. „Nicht ausweichen, nicht ausweichen.“ Wenig später ist zu sehen, wie sich ein schmales Band von Blauhelmen an der Häuserwand entlang durchzuschieben versucht – „Hamburger Kessel“ ruft Gianna, die lange in der Hafenstraße gelebt hat, und gibt das Zeichen, sich auf keinen Fall umzingeln zu lassen.
Der Angriff der Ordnungshüter bleibt stecken, war vielleicht auch wirklich nicht so auf Einkesselung abgestellt: Tatsächlich scheint die Hauptsorge der Behörden im Schutz des nahen US-amerikanischen Konsulates zu liegen. Abgesehen von einigen Prügelfans in den ersten Reihen herrscht sowieso eine Stimmung, die eher einer weichen Vorgabe der Polizeiführung entspricht — oder die Polizisten wissen selbst nicht so genau, warum sie den jungen Leuten den Weg verstellen sollen, nur weil sie sich in den notorisch leerstehenden Räumen ihr im großen und ganzen friedliches Leben einrichten wollen.
Am Abend, noch ist die Druckerei besetzt (sie wird erst um Mitternacht freiwillig geräumt), wird der Polizeichef heftige Schelte dafür einstecken müssen, daß er nicht mit aller Macht gegen die Demonstranten vorgegangen ist: „Eine Zwangsräumung“, verteidigte er sich gegen acht Uhr, „hätte zu den fünfzehntausend sowieso schon kaum zu bändigenden Demonstranten noch weitere zwanzigtausend Sympathisanten zugeführt.“
Daß die „Leoncavallisti“ dann freiwillig ausziehen — wohl eine Würdigung dieser Polizeilinie — vermasselt dem „zufällig“ in Mailand anwesenden Innenminister Maroni die Tour kräftig: Vollmundig hatte der aus der oberitalienischen Ligabewegung stammende Polizeiminister schon in der ersten Abendschau die Demonstration „und damit die gesamte Behandlung des Komplexes Leoncavallo“ zu einer „Frage der öffentlichen Ordnung“ erklärt, damit die städtischen Behörden ausgeschaltet und die Weisungsbefugnis an sein römisches Ministerium gezogen.
Ein schwerer Fehler, wie sich schnell zeigt: Bürgermeister Marco Formentini, der ebenfalls den Ligen angehört und zwar die Räumung verlangt hat, aber so sheriffartig nicht vorgehen will, sagt wenig später vor Journalisten: „Gerade die Ligen sind ja für möglichst umfassende Zuständigkeiten vor Ort und nicht aus der Regierungszentrale ...“ Nichts zu machen: Maroni will Tabula rasa machen, die Sache „ein für allemal erledigen“.
Davon haben ihm freilich alle Vertrauten dringend abgeraten. Die bisherigen Erfahrungen hätten ihn auch warnen sollen. „Schließlich kann er nicht alle paar Monate die gesamte Behördenleitung auswechseln“, grinst Antonio. Während der ersten Räumung des auch im Ausland berühmten Zentrums, das längst weit über die Herberge von Randgruppen hinaus zu einem Kulturzentrum mit Kunstausstellungen, Kino-Welturaufführungen und notablen Diskussionsveranstaltungen geworden war, hatte Rom den Polizeichef und die Leiter des städtischen Ordnungsamtes gefeuert, der derzeitige Einsatzleiter wurde seinerzeit gerade von den Ligen durchgesetzt.
Gegen neun Uhr abends herrscht so etwas wie ein Waffenstillstand: Die Polizisten ziehen sich ruhig einige hundert Meter zurück, die Demonstranten lassen die Feuerwehr an die brennenden, umgestürzten Autos heran, helfen bei den Löscharbeiten mit. Einige „Leoncavallisti“ gehen in umliegende Häuser und versichern den Bewohnern, daß man für die Fensterscheiben, die zu Bruch gegangen sind, aufkommen wird — allerdings nicht bei Geschäften und schon gar nicht bei der „Cariplo“, wie Gianna sofort einschränkt: Die Bankenkette der „Casse di risparmio per le provincie lombarde“ gilt vielen Demonstranten als das Symbol des korrupten Staates, war sie doch eine der Hauptpfründe von Sozialisten und Christdemokraten. Wo immer die Demonstranten an Cariplo-Filialen vorbeikamen, luden sie die Steinschleudern und ballerten los. Die Bilanz dieses Tages: 27 Verletzte und 25 Festnahmen.
Wo werden sie jetzt hingehen, die Besetzer, nachdem auch die Druckerei geräumt ist? Die Dezentralisierung, die mit der Räumung des ehemaligen Großkomplexes für weniger „Schlagkraft“ der Besetzer sorgen sollte, ist nach den selbstkritischen Worten des Bürgermeisters wohl „auch nicht das Gelbe vom Ei gewesen“. Andrerseits steht er bei den Bürgern im Wort.
Die Räumung des Leonka ist eines der wenigen Wahlversprechen, das er bisher eingelöst hat, vom Rest — bessere Luft, weniger Lärm, mehr Arbeitsplätze, bessere Mitsprache der zweitgrößten Stadt Italiens bei der Gestaltung der regionalen Strukturen — ist bisher nichts zu verspüren, obwohl in Rom mittlerweile eine ansehnliche Lombardenriege an der Macht ist.
Aber Formentini ist sich mittlerweile auch klar darüber geworden, daß „das Leoncavallo nicht nur irgendein besetztes Terrain darstellte, sondern ein Stück Kultur ist und seine Metastasen in ganz Italien eingewurzelt sind“. Eine reine Mailänder Lösung „gibt es da wohl nicht — man sieht es an diesen Zehntausenden, die da zusammengekommen sind“.
Antonio klatscht in die Hände, als er diese Sätze hört: „Eine bessere Demaskierung der Ligen kann man sich gar nicht vorstellen: Plötzlich entdecken die Sezessionisten den Segen landesweiter Lösungen.“ Der Kampf jedenfalls, so Antonio mit nostalgisch hochgereckter linker Faust, „geht weiter. Lotta continua!“
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