: Kill the bill! A bas la loi!
■ Nicht nur in Deutschland wird mit der Verbrechensbekämpfung um Wählerstimmen geworben / In London wird morgen ein buntes Bündnis gegen die "Criminal Justice Bill" demonstrieren / Auch in Frankreich sind ...
Nicht nur in Deutschland wird mit der Verbrechensbekämpfung um Wählerstimmen geworben / In London wird morgen ein buntes Bündnis gegen die „Criminal Justice Bill“ demonstrieren / Auch in Frankreich sind Gesetzesverschärfungen geplant
Kill the bill! A bas la loi!
Dixie Dean ist optimistisch: „Es wird die größte Demonstration seit der Kampagne gegen die Kopfsteuer.“ Die Schatzmeisterin der „Coalition against the Criminal Justice Bill“ erwartet, daß morgen mindestens 80.000 Menschen in London gegen das von den Torys geplante Gesetz protestieren. Sie sehen die „Criminal Justice Bill“ als den größten Angriff auf die Bürgerrechte, den es in diesem Jahrhundert in England gegeben hat.
Der „coalition“ gehört ein breites Spektrum von Organisationen an – von Gewerkschaften und linken Labour-Abgeordneten über Professoren, RechtsanwältInnen, SchauspielerInnen – darunter Oscar-Gewinnerin Emma Thompson – und JournalistInnen bis hin zu Rockgruppen, HausbesetzerInnen, Arbeitslosen-Initiativen und schwarzen Bürgerrechtlern. „Der Widerstand gegen das Gesetz hat Leute zusammengebracht, die sich bisher gar nicht vorstellen konnten, daß sie dieselben Interessen haben“, sagt Dixie Dean.
Sie hat in der vergangenen Woche mit einem schwarzen Gewerkschafter aus Südafrika gesprochen. „Er sagte, die südafrikanische Apartheid-Regierung hätte liebend gerne ein solches Gesetz zur Verfügung gehabt“, meint sie. „Es gibt der Polizei das Recht, Personen ohne ersichtlichen Grund auf der Straße anzuhalten und zu durchsuchen. Das entspricht den berüchtigten Notstandsgesetzen in den siebziger Jahren, die wegen der sogenannten Rassenunruhen verabschiedet worden waren und sich vor allem gegen Schwarze richteten.“ Deshalb haben sich zahlreiche schwarze Bürgerrechtsorganisationen der Koalition angeschlossen. Aber auch die Gewerkschaften sehen sich bedroht. „Nach dem Gesetz könnten Streikposten jederzeit verhaftet und kriminalisiert werden“, sagt Dean. „Selbst die Absicht, an einer friedlichen Demonstration teilzunehmen, wäre strafbar.“ – Zielscheibe der Regenbogen-Opposition ist Michael Howard, Majors Innenminister und strahlender Held des rechten Tory-Flügels. Howard hatte im letzten Jahr ein „Law- and-order-Paket“ vorgelegt, mit dem er wieder für klare Verhältnisse sorgen wollte, eben die „Criminal Justice Bill“. Nebenbei wollte er so der Labour Party das Wasser abgraben. Die hatte nämlich selber versucht, sich als Law- and-order-Partei darzustellen, indem sie das „unbarmherzige Durchgreifen gegen kriminelle Elemente“ gefordert hatte. Howard zögerte nicht mit der Antwort. „Wir müssen der Polizei die Handschellen abnehmen“, schrie er auf dem Tory-Parteitag im letzten Jahr, „und sie statt dessen den Kriminellen anlegen.“
Seine Rechnung, daß Labour- Chef Tony Blair den Schwanz einziehen und ihm dieses Feld überlassen würde, ging jedoch nicht auf: Das Labour-Schattenkabinett beschloß, im Unterhaus nicht gegen die Gesetzesvorlage zu stimmen. Dadurch zog er sich allerdings den Zorn Hunderttausender junger WählerInnen zu und verspielte die Chance, sich an die Spitze einer Bewegung zu stellen, die die Gemüter so stark bewegt wie kein anderes Thema seit der Kopfsteuer. „Das Verhalten der Labour-Führung ist widerlich“, sagt Dixie Dean. „Viele Abgeordnete vom linken Labour-Flügel und eine Menge Gewerkschafter sind stocksauer auf Blair.“ Die 19jährige Caroline Lewis, die im „Freedom Network“ gegen die Criminal Justice Bill arbeitet, sagt dazu: „Vielen jungen Leuten ist klar geworden, daß das politische System ihnen nichts mehr zu bieten hat. Früher war das Spektrum breiter.“ Das Freedom Network hat ein heruntergekommenes ehemaliges Sozialamt besetzt und es mit Hilfe von Spenden in ein Kulturzentrum umgebaut. Es gibt inzwischen rund vierzig Zweigstellen im ganzen Land. „Die Politik wird von alten Männern dominiert, die mit meiner Welt nicht das geringste zu tun haben“, so Lewis, „Torys und Labour sind in der Mitte zusammengerückt.“ Während der Labour- Vorstand sein Plazet gab, tadelten die Lords verschiedene Teile der Vorlage. Deshalb konnte das Gesetz nicht – wie von Howard geplant – vor der Sommerpause in Kraft treten. Freilich hat der Einspruch des Oberhauses nur aufschiebende Wirkung: Am 19. Oktober, also gleich nach dem Tory- Parteitag, wird Howard sein Paket erneut dem Unterhaus vorlegen, um die Einwände der Lords zunichte zu machen.
Wichtigster Paragraph des 27 Punkte umfassenden Paketes ist die Abschaffung des seit 300 Jahren garantierten Rechts auf Aussageverweigerung. Wer schweigt, soll automatisch schuldig sein. „Dieser Paragraph öffnet Justizirrtümern Tür und Tor“, sagt Dixie Dean. So gehören auch die „Birmingham Six“, die 17 Jahre unschuldig im Gefängnis saßen, der „coalition“ an. Vor zwei Wochen versuchten sie, Howard ihre Bedenken im Unterhaus vorzutragen. Der Innenminister wies sie ab.
Howards Gesetz sieht viele weitere Verschärfungen vor:
– Die Freilassung von Angeklagten gegen Kaution soll erschwert werden.
– Die Höchststrafe für jugendliche Straftäter wird verdoppelt.
– Die Polizei wird ermächtigt, von Verurteilten einen „genetischen Fingerabdruck“ zu speichern.
– Kinderknäste für Zwölf- bis Vierzehnjährige sollen eingerichtet werden. Der Weg für weitere Gefängnis-Privatisierungen wird geebnet.
Darüber hinaus hat Howard das Vergehen des „verschärften unbe- fugten Betretens“ erfunden, das gegen Hausbesetzer, die sogenannten „New Age Travellers“, Roma und Sinti, Ravers und Jagdsaboteure gerichtet ist. Hier wird die rechtspopulistische Tendenz des Gesetzes am deutlichsten: Soziale Probleme sollen mit juristischen und polizeilichen Mitteln bekämpft werden, eine Fülle von bisherigen Ordnungswidrigkeiten wird zu Straftatbeständen erklärt.
Schlecht sieht es aus für alle Nichtseßhaften, die wie „New Age Travellers“ mit buntbemalten Wagen durch die Lande ziehen und häufig auf „common land“ campieren. Wenn mehr als sechs Wagen auf der Wiese stehen oder die Wagen auch nur leicht beschädigt wirken, kann die Polizei gegen die Nichtseßhaften einschreiten, sofort und ohne Gerichtsbeschluß. Bloßes Urinieren auf öffentlichem Land gibt der Polizei schon Handhabe zum Eingreifen. Selbst eine Duldung durch den Grundstücksbesitzer hilft nichts, wenn sie nicht schriftlich vorzeigbar ist. Und wer sich wehrt, riskiert – außer empfindlichen Geldstrafen – den Verlust seines Wohnmobils.
Die Probleme, die sie da bekämpft, hat die Tory-Regierung selbst produziert: zum Beispiel die Wohungsnot, die zwei Millionen Briten betrifft. Daran gemessen und angesichts von 864.000 leerstehenden Wohnhäusern, ist die Zahl von 50.000 Hausbesetzern in England eigentlich noch gering. Auch sie fürchten die drakonischen Paragraphen des neuen Gesetzes. Zu der Regenbogen-Koalition, die sich gegen die „Bill“ zusammengetan haben, gehören auch die Raver, die ebenfalls ein von den Tories „selbstproduziertes“ Problem darstellen: Raver – Besucher „wilder“, nicht lizenzierter Open-Air- Festivals – gibt es genau seit 1982: Seit damals nämlich müssen Open- Air-Festivals staatlich genehmigt werden, was mit hohen Gebühren und mal mehr, mal weniger sinnvollen Auflagen verbunden ist.
Schließlich kommen die Jagdsaboteure hinzu, eine sehr britische Erfindung: Umweltschützer diverser Couleurs werfen sich als lebende Schutzschilde zwischen Treiber und Füchse, um die „sportliche“ Freizeitjagd, durchaus noch britische Allgemeinkultur, zu unterbinden.
Bei all diesen Gruppen kann die Polizei nach der Bill schon bei geringsten Verdachtsmomenten Durchfahrts- oder Zugangsrechte verweigern. Doch damit nicht genug, weitere demokratische Grundrechte stehen auf Howards Abschußliste: Der Innenminister denkt laut darüber nach, die Rechte der Verteidigung vor Gericht zu beschneiden und bei bestimmten Gerichtsprozessen die Geschworenen abzuschaffen – das Recht auf Geschworene ist seit 1215 in der Magna Charta verankert. Und weil er gerade dabei ist, hat er für die „Law-and-order-Enthusiasten“ noch einen Leckerbissen parat: „Verbrecher“ ab dem Alter von zehn Jahren sollen künftig zu „gemeinnützigen Arbeiten“ herangezogen werden. – Howard ist trotz der massiven Opposition zuversichtlich, daß er sein Gesetz in elf Tagen unbeschadet durch das Unterhaus schleusen kann. Damit ist der Fall freilich noch lange nicht erledigt. „Falls das Gesetz am 19. Oktober verabschiedet wird, tritt es im Januar in Kraft“, sagt Dixie Dean. „Das gibt uns Zeit, unsere Kampagne noch auszuweiten. Die Kopfsteuer war ja auch gesetzlich abgesichert, und dennoch haben viele dagegen verstoßen. Wer weiß? Damals sind wir am Ende nicht nur das Kopfsteuergesetz losgeworden, sondern obendrein auch die Premierministerin.“ Ralf Sotscheck/Tom Levine,
London
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