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Hi-Tech statt Augenlicht

■ „Tag des weißen Stockes“ mit Blinden-Ausstellung / Sprechende Fiebermesser und Zeitungslesegeräte

„Grün!“ befindet eine synthetische Stimme. „Nein schwarz!“ rufen alle. Fast alle. Frau Paul zum Beispiel ist blind und weiß nicht, wie die Hose von Frau Bäkefeld aussieht. Frau Bäkefeld selbst weiß, obwohl sie blind ist, einigermaßen sicher, wie ihre Hose aussieht. Immerhin ist ihr Mann nur fast blind.

Die synthetische Stimme, die manchmal lügt, kommt aus einem Gerät namens „ColorTest“. Das drückt man gegen Hose oder Pullover und weiß, ob man sich toninton angezogen hat. Wenn man blind ist. Die Blinden der Welt begehen heute den „Tag des weißen Stockes“, und darum waren die Blinden Bremens am Mittwoch zu einem Tag der offenen Tür beim Blindenverein Bremen e.V. eingeladen. Dort drängten sich die Leute in einer kleinen Ausstellung mit den neuesten Hi-Tech-Blindenhilfsmitteln.

In den Prospekten steht „wohlklingende Stimme“ – aber Sehende und Blinde sind sich einig: Die synthetischen Stimmen hören sich wie ein Kehlkopfoperierter an und sind eine Geißel der Menschheit. Die Gerätchen selbst dagegen sind ein Segen. Nehmen wir den Pipsimed, einen per Lichtschranke die Tropfen zählenden Medikamentendosierer. Oder ein Kistchen, das mit einem Summen anzeigt, ob im Raum das Licht an ist. Weil es Blinden piepegal ist, ob abends das Licht in der Wohnung brennt oder nicht, vergessen sie oft, ob ein (sehender) Besuch Licht angemacht hat. Es gibt sprechende Fieberthermometer, sprechende Armbanduhren natürlich, sprechende Personenwaagen („Sie haben zugenommen, auf Wiedersehn!“) und ein sprechendes Raumthermometer („Piiiep, piiiep, pip, pip, pip“ heißt 23 Grad). Seit die Computer sprechen können, können sie den Blinden einiges von dem erzählen, was dem Sehenden das Auge sagt. Nur teuer ist das Zeug. Ab 300 Mark aufwärts kommt so ein Gerät in der Größe einer TV-Fernbedienung.

Mit Frau Paul über Farbe reden ist interessant. Frau Paul ist seit ihrem dritten Lebensjahr blind und hat weder eine Vorstellung von Farben noch von hell oder dunkel. Möchte sie überhaupt etwas über Farben wissen? „Mein Gott JA,“ da ist sie entrüstet, „auf jeden Fall! Ich muß doch wissen, ob meine Hose schwarz ist und ob der Pullover dazu paßt. Wir wollen normal auf andere wirken!“ Nur welche Farben alle anderen tragen, das interessiert sie nicht. „Ich kann mir auch keine Haarfarbe merken.“

„Zweihundertundzwanzig Gramm,“ quatscht die Haushaltswaage unvermutet dazwischen, keiner wollte das wissen. Auf ihr liegt, rührend altmodisch, eine Prägezange, mit der man Blindenschrift auf ein Klebeband prägen kann. Damit lassen sich Kassetten, Dosengemüse und Eingefrorenes beschriften.

Traditionell ertasten sich die Blinden die Welt. Als es noch keine Hitec gab, fühlte man die Uhrzeit am Zeiger und an Knubbeln auf dem Ziffernblatt; man klebte sich eine Markierung auf den Lichtschalter in „Aus“-Stellung. Doch die meisten Blinden oder Fast-Blinden sind heute „Späterblindete“, die das Tasten nie gelernt haben und erst recht keine Blindenschrift beherrschen. Für die kann es gar nicht genug elektronische Hilfen geben.

Das größte Gedrängel am Tag der offenen Tür herrscht bei LeseAs. Das ist ein Computer, dem man eine Zeitung unterschiebt, die dann von der Maschine vorgelesen wird. Eine Erleuchtung! Bisher waren Printmedien mit Ausnahme einiger in Blindenschrift oder auf Kassette übertragener Zeitschriften den Blinden unzugänglich. Kostenpunkt der Anlage: 14.000 Mark. Eventuell zahlt das die Kasse.

Rums! Frau Bäkefeld rennt gegen eine Tür, die jemand, ohne daß sie es gemerkt hätte, geschlossen hat. Natürlich sind die Grenzen der elektronischen Helferlein schnell erreicht; ohne den weißen Stock geht es doch nicht. Besonders draußen, auf freier Wildbahn, da rempeln sie einen an oder halten einen für besoffen, wenn man nicht mit dem weißen Stock sein Gebrechen signalisiert.

Es gibt doch diesen Blindenwitz von einer irrwitzigen Autofahrt, an deren Ende einer mit weißem Stöckchen aus dem Wagen steigt. Die Blindenrunde im Geschäftszimmer des Vereins nickt wissend. Und ganz nebenbei kommt es raus: Die Blinden wollen Auto fahren! Nächstes Jahr mieten sie sich ein Flugfeld und düsen über den Platz. Auf dem Beifahrersitz je ein Fahrlehrer. Da haben sie einfach Lust zu. Komisch ist die Vorstellung nur für Sehende.

Burkhard Straßmann

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