: Abenteuer S-Bahn für Abgeordnete
Acht mutige Mitglieder der FDP-Fraktion fuhren am Freitag abend S-Bahn im Osten, um sich vor Ort ein Bild von der Lage zu machen / Selbst ein paar babygesichtige Skinheads gaben sich leutselig ■ Von Detlef Kuhlbrodt
Berlin-Lichtenberg war sehr bemüht, das Klischee seiner selbst zu erfüllen. Gruppen amüsierwilliger Jugendlicher flanierten durch schlecht beleuchtete Straßen; junge Mädchen führten eine Flasche Korn entschlossen an ihre Lippen. Freitag abend in der Sonntagstraße vor dem Bahnhof Ostkreuz standen acht FDP-Abgeordnete umringt von tausend Journalisten, die die mutigen Politiker dabei beobachten wollten, wie sie sich vor Ort ein Bild von der Lage auf übel beleumdeten S-Bahn-Linien machen wollten. – Eine pfiffige Idee. Wie Schüler, die sich bei ihrer Berlinfahrt von den bekannten Wegen absetzen, um das echte Berlin zu entdecken; nervös, doch erlebnishungrig, standen die MDAs auf dem Bahnsteig und schauten auf hilfreiche Orientierungsblätter. Auf der einen Seite war ein S-Bahn-Fahrplan mit den Abfahrtszeiten der letzten Züge aus Vorstadtgegenden wie Erkner, Bernau, Birkenwerder usw., auf der anderen standen Fragen, die sie S-Bahn-Angestellten, privaten Sicherheitsleuten, BGSlern und Fahrgästen stellen wollten.
Während ein jüngerer FDPler sich an seiner Taschenlampe festhielt, hantierte Otto Hoffmann, der kleine, sympathisch wirkende stellvertretende Fraktionsvorsitzende, aufgeregt an seinem Handy herum. Versuche, mit den schon vorausgefahrenen Fraktionskollegen Kontakt aufzunehmen, scheiterten. Immer wieder sprach Herr Hoffmann, der in seiner braunen Lederjacke übrigens sehr freundlich und aufgeschlossen hinter den Gläsern seiner goldenen Günter- Grass-Brille hervorzwinkerte, auf sein possierliches Mobiltelefon ein: „Das gibt's doch nicht. Vielleicht hat er ja sein Telefon so leise gestellt, daß er's gar nicht hört. Sag mal, Michael – du kennst dich doch aus?!“ Doch Michael Tolksdorf, ein aufgeschlossener, manchmal nachdenklicher Prof. Dr. im hellen Anorak, wußte auch nicht weiter. So fuhren sie denn S-Bahn. Ohne Netz und doppelten Boden; Aktionsdemokraten, die sich aufmachten, „mit den Leuten zu sprechen, um zu sehen, was los ist“. Und wenn was passiert? „Da setzen wir auf unsere Intuition.“
Zunächst wirkte Rexrodts bunte Männertruppe eher komisch. Vier eifrig fragende, von zwei TV-Teams beobachtete Abgeordnete stürzten sich freundlich auf eine Handvoll S-Bahn-BenutzerInnen. Später teilte sich die Schar. Auf sich allein gestellt, eilte Herr Tolksdorf von einem zum andern: „Verzeihen Sie. Ich bin Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses.“ Dann sprach er mit einem leicht angetrunkenen Bauarbeiter, der stolz darauf war, siebzig Stunden in der Woche zu arbeiten, nachher noch schnell was trinken wollte und auch schon mal in der S-Bahn überfallen worden war. Die Strecke nach Erkner sei besonders hart – „da fährst du nur einmal, dann nicht mehr“, sagte er und war ganz erstaunt, als ich ihm später erklärte, daß er gerade mit einem FDP-Politiker gesprochen hatte. „Ich dachte, der wäre von den Grünen.“
Keinen ließ Michael Tolksdorf aus, niemand wies den tollkühnen Demokraten ab; selbst ein paar babygesichtige Skinheads, die sich als „National-Sozialisten“ vorstellten, gaben sich leutselig und schimpften gleichermaßen auf randalierende Gesinnungsgenossen, Bullen und Flüchtlinge. Tolksdorf hielt tapfer dagegen.
Dann waren wir ganz allein auf dem Weg nach Birkenwerder, und Herr Tolksdorf blinzelte mir verschwörerisch zu: er sei ja ein Sozialliberaler und auch dagegen, die PDS auszugrenzen. Tief bewegt berichtete er, wie schön die sich nach der Wahl gefreut hätten, „wie zuvorkommend die sind, wie liebevoll, wie freundlich“. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen, fahre er übrigens „grundsätzlich“ U- und S-Bahn und Fahrrad. Bei der Aktion ginge es vor allem darum, den öffentlichen Nahverkehr wieder attraktiv zu machen. Einiges an Anregungen hätte er schon bekommen: man sollte die S-Bahnen nachts mit weniger Wagen fahren lassen, die BGSler dürften nicht schon nach drei Wochen abgezogen werden, überhaupt müsse man die Sicherheit verbessern. Persönlich störe ihn der Schmutz in den Wagen. So nahm er am Ziel unserer Reise ein paar leere Bierflaschen und andren Müll mit. Das mache er immer so.
Auf der Rückfahrt trafen wir dann wieder auf die anderen Abgeordneten, die allerlei Schnurren zum besten gaben. Von pöbelnden Skinheads und einem unfreundlichen Bahnhofsvorsteher, „der mir fast die Tür an den Kopf geknallt hatte“, war die Rede. Dann entdeckte man eine echte Jugendgang im anderen Wagen. Eine lustige Verfolgungsjagd begann, bei der die gesprächslüsternen FDPler und die TV-Teams, denen noch ein O-Ton fehlte, allerdings unterlagen. Die FDP ist eine klasse Partei. Demnächst wollen sie bei Aldi einkaufen, als Studenten oder Ausländer verkleidet, Arbeit und Wohnung suchen; Hasch rauchen (ohne zu inhalieren) und auch mal versuchen, Platten aufzulegen. Viel fremde Welten gibt es noch zu entdecken.
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