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■ Nach der Wahl: sozialpolitische Unverfrorenheit purDen Hammer der nächsten Woche, wir kennen ihn noch nicht

Langweilig, lau, inhaltsleer – all die einhelligen Charakterisierungen des zurückliegenden Wahlkampfs, zwei Wochen nach den Bundestagswahlen stimmen sie schon nicht mehr. Sie sind die Verniedlichung eines dreisten Geschäftsgebarens, dessen Tragweite sich durch täglich neue Meldungen ins Bewußtsein schiebt. Die Ereignislosigkeit des Wahlkampfes war Methode, die inhaltliche Leere nur selbst auferlegte Enthaltsamkeit, die Abstinenz von Politik Voraussetzung für ihre Durchsetzung: Kaum ist der Wahlkampf vorbei, da laufen in Bonn die Schwungräder heiß.

Keine Schamfrist, nicht einmal der Versuch, den Geruch von Schmu zu umnebeln. Wie ein monatelang zurückgehaltener Schwall prasselt die Politik herunter: grünes Licht für Mietexplosionen, Aufhebung der Tarifbindung im Lohngefüge, Sozialhilfeeinschnitte und Rentenkürzungen, Probebohrungen für die Durchlöcherung des gesetzlichen Krankenversicherungssystems. Den „Hammer“ der nächsten Woche kennen wir noch nicht.

Der Wahlkampf 1990 blieb in Erinnerung als einer der nicht gehaltenen Versprechen. Der Wahlkampf 1994 erweist sich als der der verschwiegenen Absichten und zurückgehaltenen Drohungen. Hier wurde nichts versprochen, für Versprechungen fehlte es an politischer Phantasie. Die sprießte an entgegengesetzter Stelle und wurde vorsorglich unter Verschluß gehalten bis zum day after. Mit „Aufschwung, Aufschwung, Aufschwung“ sekundierten Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände der Kohl-Regierung noch vor vierzehn Tagen.

Kurz nach der Wahl wird nun klar, wer den Aufschwung bezahlen soll. Zwei Jahre arbeitete eine Bonner Expertenrunde an einer „Reform“ der Wohnungsbauförderung. Als die Wählerstimmen eingefahren waren, veröffentlichte man das Ergebnis: drastische Mieterhöhungen, Aushebelung des Kündigungsschutzes. Wären all diese sozialen Einschnitte vor den Wahlen bekannt geworden, der knappe Kanzlervorsprung wäre dramatisch geschmolzen.

Doch kein Wort davon in den unzähligen Wahlkampfreden, keine Diskussion darüber in den TV- Duellen, auch nicht von der Opposition, die diese wohlkalkulierte Nachrichtensperre respektierte? Wußte man wirklich nicht, was da längst in Bonner Schubladen und Manageretagen schmorte? Reichte die Phantasie nicht aus, um die sozialpolitischen Unverfrorenheiten zu prognostizieren? Oder war die Aussperrung der Politik aus dem Wahlkampf nur milde Tarnung dafür, daß der Opposition selbst die politischen Konzepte fehl(t)en?

Die WählerInnen werden aus dieser Erfahrung eine neue Lehre ziehen müssen: Beim Kauf von Politik – Vorsicht vor einer besonderen Form des Trickbetrugs! Nicht auf das Kleingedruckte achten. Im Nichtgedruckten steckt der große Schmu. Vera Gaserow

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