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Auf blauem Tüll

Allons, enfants, nach Paris: Das Centre Georges Pompidou feiert das Pionierstudio „Pathé“  ■ Von Mariam Niroumand

Am Anfang waren da zwei Pariser Industrie-Hasardeure: Als er und sein Bruder Emile in Argentinien kläglich am Papageienhandel gescheitert waren, stürzte sich Charles Pathé auf den Handel mit den Dingen, die Thomas Alva Edison erfunden hatte. Zuerst den Phonographen, dann ein Gegenmodell zum Kinetoskop, später dann eigene Apparate zum Aufnehmen und Projizieren. Diese benutzte er durchaus auch selbst, drehte und zeigte kleine Filme auf Publikumsnachfrage: Hochzeiten, Bankette, erotische Pikanterien. Von diesen verkaufte er Abzüge, auf Verlangen auch meterweise. „Ich habe das Kino nicht erfunden“, schrieb Charles Pathé in seinen Memoiren, „aber ich habe es industrialisiert.“ Die Ausstellung im Centre Georges Pompidou erzählt die Geschichte der Pariser Firma als Geschichte des Kinos: Zwischen Kaiserpanorama und interaktiver CD-ROM liegen 5.000 Filme, die Pathé von 1896 bis 1911 produziert hat, die wichtigsten technischen Quantensprünge und Produktionsweisen.

Laterna Magica in Form eines Buddhas

Mit der Ausstellung eröffnet das Centre Georges Pompidou den 100-Jahre-Kino-Rummel. Auf 2.000 Quadratmetern und unter dem blauen Tüll eines Sternenhimmels sind die ersten und die letzten Bildermaschinen ausgebreitet: eine Laterna magica von 1870 in Form eines Buddhas, Daumenkinos vom Vater, der seine Tochter versohlt, oder vom Holzfäller in Aktion – Menschen als Muybridge-Marionetten, Kameras aller Provenienzen; Burt Lancasters diverse Kostüme aus dem „Leoparden“, Computerspiele.

Das Kino blieb, bis Mitte des ersten Dezenniums, für die Firma Pathé nur ein Nebenkriegsschauplatz. Erst die Entwicklung des Phonographen katapultierte es aus dem Jahrmarkts-Dasein. Fasziniert hatte Pathé Aufzeichnungen auf Wachsrollen gelauscht, die Arien aus „Carmen“ oder Rezitationen von „Wilhelm Tell“ durch dubiose Trichter wiedergaben. Bald schon produzierte er seine Aufzeichnungen selbst: „Jeden Abend rezitierte ich zehn, fünfzehn Monologe, vor allem den des Präsidenten. Abgespielt wurden sie Tausende von Malen, und alle waren davon überzeugt, den Präsidenten persönlich zu hören.“ Die großspurigste Mogelei aus dem Hause Pathé waren die „News“. Anfang des Jahrhunderts bot die Firma Nachrichten aus aller Welt an. Der Tod des Papstes, der Mord in der serbischen Königsfamilie wurden in großem Stil und wahrscheinlich um Längen aparter als die realen Kopfschüsse von Schauspielern nachgestellt.

Auf den enormen Erfolg hin entstand 1908 das Pathé-Journal. Pathé setzte Korrespondenten ein, die zur Stelle waren, wenn jemand beim Untergang der Titanic ertrank. Das Unternehmen industrialisierte sich im gleichen Rhythmus, in dem es sich internationalisierte: nach 1904 entstanden in New York, Moskau, Barcelona, Berlin, Singapour und sogar Kalkutta Dependancen.

Stand das Pathé-Journal kinematographisch noch in der Nachfolge der Lumière-Aufnahmen, begann die Firma irgendwann auch, Spielfilme zu produzieren, von der Burleske bis zum Sozialdrama oder dem Märchen. Erst langsam entwickelte sich die Vorstellung von „Szenario“ oder gar einem Drehbuch, mit ihm dann aber auch das Konzept vom „Kunstfilm“. Dann ging es Schlag auf Schlag; die ersten Studios folgten, die ersten Autorenverbände, Forschungslaboratorien für Ton- und Farbfilm, dann auch die ersten großen Abspielsäle. Prompt gab es auch die Konkurrenz zwischen Europäern und Amerikanern, speziell in bezug auf das Monopol von Eastman-Kodak.

Die gewitzteste Erfindung der Gebrüder war allerdings eindeutig der zärtlich „Pathé Baby“ genannte Kleinstprojektor, der nicht größer war als eine Nähmaschine. Eine Leinwand, handtuchgroß, mit Bambusstäben über den Sessel gespannt, an den Leuchter angeschlossen – und die Welt kam zu dir.

Aggressiv wie die anderen Majors auch, kontrollierte das aufstrebende Unternehmen die Distribution, die künstlerische und industrielle Produktion, die technische Weiterentwicklung, das sich entwickelnde Starsystem und vor allem die frühen Independants: Es ist nicht zuletzt Pathé zuzurechnen, daß Georges Méliès, der „Zauberer“ unter den Kino-Pionieren, bankrott ging. Er konnte sich gegen die (Raub-)Kopiererei seiner Ideen nicht wehren.

Auf die Krise folgt L'Age d'or

Nicht daß das Unternehmen an den ersten großen Kinokrisen vorbeigekommen wäre; immer wieder wird unterschätzt, was die Einführung des Tons für den Film bedeutete. Der technisch bedingte Verlust an Internationalität paart sich in den frühen dreißiger Jahren mit den ersten antisemitischen Kampagnen in Film und Printmedien, die die Firma einige ihrer wichtigsten Exponenten kosteten. Wenig später dann L'age d'or: Unter Pathés Fittichen arbeiteten Regisseure wie René Clair, Marcel L'Herbier, Maurice und Jacques Tourneur; „Les Enfants du paradis“ entstand und „La Roue“ von Abel Gance, später „La Dolce Vita“ und „Der Leopard“.

Dieser Tage rüstet sich Pathé, seit den sechziger Jahren auch mit Fernsehproduktionen befaßt, zu einem Major des 21. Jahrhunderts um, mit den entsprechenden Finanzskandalen und Investment- Bankern allerorten. Eigentlich war das Unternehmen zwar marode, 1988 fast bankrott – aber seine vielen Rechte haben es gerettet, die Immobilien, das Pathé-Journal. Ein gutes Omen: Der Film, der zwischenzeitlich einmal komplett aus der Produktpalette der Firma herausgefallen war, gehört nun, seit der Übernahme durch die Gruppe „Chargeurs“ (potenter Name!), wieder dazu, und zwar im Rahmen einer kleinen Tochterfirma, die von dem Produzenten Claude Berri geleitet wird.

„Pathé, premier empire du cinéma“. Bis 6.3. 1995 im Centre Georges Pompidou, Paris, Katalog 480 S., ca. 130 DM

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