: Ein Frosch mit drei Kluften
■ Pfadfinder sind „in“: Ein Besuch beim Bremer Stamm „Götz von Berlichingen“
Es ist Nacht in Ristedt. Die Bauern des niedersächsischen Dörfchens südlich von Bremen schlafen. Da bricht, um Mitternacht, im dortigen Schullandheim ein Höllenlärm los. Kleine Kinder werden von einer Trommel aus den Etagenbetten und in die Kluft gescheucht. Dann geht's in den finsteren Wald zum nächtlichen Spiel. Weinfässer werden heimlich durchs Gebüsch gerollt. Ohne Taschenlampe, versteht sich – elektrische Helfer sind hier verpönt. Konkurrierende Kindergruppen versuchen, einander die Fässer abzujagen, wer am meisten erobert, gewinnt.
Das Herbstlager des Oberneulander Stammes „Götz von Berlichingen“ der „Christlichen Pfadfinderschaft Bremen e.V.“ ist in vollem Gange. Für einen Augenblick fühlt man sich in die 60er Jahre zurückversetzt. Hier heißen die Kleinen noch Wölflinge, die Großen nicht Leiter oder gar Teamer, sondern Führer, das Credo heißt Christentum plus raus aus der Stadt, weg vom Computer und von der Glotze. Walkman und Gameboy sind verboten. Lagerfeuerromantik wird hier ganz ohne Anführungsstriche gepriesen. Das Liedgut umfaßt „Oh when the saints“ und Landsknechtlieder. Es gibt einen immateriellen „Ratsfelsen“ (je nach Wetter drinnen oder draußen), wo Demokratie geübt werden soll, und ein „Jahresthing“ der Stammesführer als höchstes Gremium. Die Bremer Pfadfinder bezeichnen sich nach außen hin als „konservativ“; untereinander sprechen sie von „bündisch“.
„Ich habe drei Kluften,“ sagt Frosch. „Frosch“ ist der Pfadfindername von Christian Poppe, 21 Jahre, Stammesführer. Frosch ist Kriegsdienstverweigerer, trägt einen Zopf, ein Freundschaftsbändchen am Arm und sagt: „Immer wenn sich zwei von uns aus Pfadfindergründen versammeln, tragen sie Kluft.“ Bei Frosch ist das vier bis fünf Mal in der Woche.
Frosch war auch in München dabei. Auf dem letzten Kirchentag kam es zu häßlichen Szenen: „Mittvierziger mit Birkenstock-Sandalen und Bart, Alt-Achtundsechziger“, so die Beobachtung eines Teilnehmers, beschimpften den uniformierten Ordnungsdienst. Besucher hätten sich durch die „Kluft“ provoziert gefühlt und mit Hitlergrüßen und Tätlichkeiten reagiert. Feldgraues Hemd, Halstuch, schwarzer Schlapphut oder das „bündische“ Barett auf dem Kopf, ein Fahrtenmesser an der Seite, kurze Hose: An der Tracht, die sogar Spätgeborene an die Hitlerjugend erinnert, scheiden sich innerhalb und außerhalb der Pfadfinderbewegung heute noch die Geister.
Nicht zuletzt der Bruch mit ehernen Pfadfinderbräuchen bescherte einer der größten Jugendbewegungen des Landes nach 1968 ganz erstaunliche Mitgliederzuwächse. Martialisches Auftreten, Führerprinzip, paramilitärische Geländeübungen und naturromantische Blickverklärung wurden in weiten Kreisen der Pfadfinderschaft über Bord geworfen; an Bord genommen wurden gesellschaftliche Fragen, politische Diskussionen, Öko- und Dritte-Welt-Themen. Die ideologische Öffnung nebst der Einführung der Koedukation auch bei der katholischen (mitgliederstärksten) Pfadfinderschaft St. Georg bekam der Bewegung so gut, daß man heute allerorten von einem „Pfadfinder-Boom“ lesen kann. Sicher ist: Im Gegensatz zu den Jugendorganisationen von Sportverbänden, Parteien oder Gewerkschaften haben die Pfadfinderorganisationen kein Mitgliederproblem. In Deutschland gibt es schätzungsweise 200.000 Pfadfinder, Tendenz steigend. Pfadi-Sein ist „in“.
Und sogar die Kluft hat überlebt. Trotz Klischee vom Waldheini mit Schlapphut und Klampfe, der („Jeden Tag eine gute Tat“) Omas gegen ihren Willen über die Straßen führt. Das Image-Problem auch „moderner“ Pfadfinder: Wo einer in Tracht auftaucht, wird fotografiert und geschrieben (und gespottet und kritisiert); wo die Kluft abgelegt wurde, kräht kein Hahn mehr nach den Pfadfindern.
25 Millionen Mitglieder weltweit hat die 1906 vom britischen General Baden-Powell geründete Bewegung heute. Eins hat sie nicht: eine verbindliche Baden-Powell-Bibel. Jedes Land, jede Stadt hat eigene Pfadi-Traditionen, die Unterschiede sind enorm. Die großen Verbände haben braune und rote Ränder. Es gibt Computer-Pfadis, moslemische Pfadis, Wehrsport-Pfadis mit Springerstiefeln, man findet unter den Pfadfindern REP-Anhänger, ultra-konservative Koedukationsgegner, fortschrittliche Koedukationsgegner, es gibt Pfadfinder, die nur noch politisch tätig sind und solche, die dem Staat die Sozialarbeit abnehmen.
Am nächsten Morgen im Herbstlager Ristedt sind die kleinen Wölflinge mit dem martialischen Stammeszeichen (Götzens Faust auf rotem Grund) sichtlich angeschlagen von der Nacht. Einer ist sogar – vor Aufregung? – aus dem Etagenbett gefallen und hat sich einen Fuß gebrochen. Er muß ins Krankenhaus. In kleinen Gruppen rennen sie jetzt durchs Dorf, beaufsichtigt von Älteren, und fragen den Bürgermeister nach dem Vornamen oder errechnen aus dem Schatten des Kirchturms seine Höhe. Als Proviant gibt's Salami und Brot. Karte, Kompaß, Knoten – hier wird noch alles fürs Leben im Gelände gelernt.
Der zentrale Gedanke ist das gemeinsame Abenteuer; die Pädagogik wendet sich gegen die saturierte Erwachsenenwelt, sie heißt „Learning by doing“, man lernt aus seinen Fehlern. Politik interessiert hier niemanden, allenfalls gibt es einmal eine Wasseruntersuchung im Feuchtraumgebiet. Ganz groß geschrieben wird bei den Jungen und Mädchen (Verhältnis 2:1) eine gesellschaftliche Tugend, die sie anderswo kaum noch lernen: die Verantwortlichkeit für andere. So bekommt eine „MeuFü“, der Führer einer Wölfling-“Meute“, einen Anschiß von seiner „SiFü“ (Sippenführerin): Er hat ein Kind seiner Meute aus den Augen verloren.
Burkhard Straßmann
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